Warum sich Geschlechterstereotype wohl immer halten werden

Mädchen oder Junge?

Wenn Mädchen blaue Sachen tragen und Jungs pinke Fahrradschlösser benutzen, kann es schnell zu Verwirrungen kommen. Was wir alltäglich erleben, was dahinter steckt und warum ich die dahinterstehende Stereotypisierung der Geschlechter gar nicht so verkehrt finde, das möchte ich in diesem Beitrag erläutern.
Dies ist mein Beitrag zur verflixten Linkparty im März zum Thema „Alles Gender, oder was?“.

Prolog

Szene 1: Wirbelwind trifft auf ihre Kusine und fragt sofort: „Wollen wir den Pferden die Haare kämmen?“
Ihre Kusine ist das, was man als „mädchenhaft“ bezeichnet. Sie trägt gerne pink, Röcke, liebt Puppen und Schminken.
Szene 2: Wirbelwind trifft auf den Nachbarsjungen und fragt: „Wollen wir mit deinen Autos spielen?“

Der Nachbarsjunge ist das, was man als „jungenhaft“ bezeichnet. Er trägt dezente Farben und geht nie ohne seine Autos aus dem Haus.

Pinkfarbener Denkanstoß

Szene 3: Wir erreichen den Kindergarten. Wirbelwind starrt auf ein grau-orange-farbendes Laufrad. „Hey, das Schloss ist ja pink. Das passt doch gar nicht.“ Ich frage nach: „Warum passt das nicht?“ „Na weil das ein Jungs-Laufrad ist.“ „Welche Farbe müsste das Schloss denn dann haben?“ „Na schwarz. Oder grün.“
Blau fiel scheinbar als Jungsfarbe weg, weil ich in diesem Moment Wölkchen mit blauem Schneeanzug in den Händen hielt.

Szene 4: Eine vierjährige Kindergartenfreundin zeigt auf das gänzlich blau eingekleidete Wölkchen (siehe Titelbild) und fragt irritiert: „Hast Du jetzt einen Jungen?“
Dass sich das Geschlecht meines Babys gewandelt haben könnte, schien für sie wahrscheinlicher, als dass ein Mädchen Blau trägt.

Ihr seht, bereits ein drei- bzw. vierjähriges Kind weiß bereits ganz klar, welche Geschlechterrollen typisch zu sein scheinen, was sich gehört und was nicht. Wirbelwind greift bereits mühelos auf klischeehafte Eisbrecher zurück, um andere Kinder geschlechtsspezifisch zum Spielen aufzufordern.
Einerseits ist das erschreckend. Zweieinhalb Jahre Kindergarten haben ihr bereits die gesellschaftlichen Geschlechterrollen verinnerlicht. Unsere Offenheit für Spielzeug und Farben scheinen machtlos angesichts der erdrückenden Beweislast von Außen.Aber… ich sehe in dieser Stereotypisierung nicht nur Nachteile. Bevor Ihr aufschreit, lasst es mich erklären…

Was beschreibt „Gender“ eigentlich?

Beginnen wir von Vorne. Was beschreibt dieses „Gender“ überhaupt? „Gender“ ist nicht gleichzusetzen mit dem Geschlecht. Es geht über das Körperliche hinaus. Es stellt vielmehr das kulturell geprägte soziale Geschlecht dar, welches geschlechtspezifische Rollenerwartungen und Verhaltensweisen umfasst. Wir sprechen hier also von gesellschaftlichen geprägten Erwartungen darüber, wie sich eine Person eines bestimmten Geschlechtes, sprich ein Mann, eine Frau, aber auch ein Mädchen oder ein Junge, zu verhalten haben. Sehen wir ein Mädchen, bedienen wir uns den Rollenerwartungen, die wir an ein Mädchen stellen, so wie wir es im Zuge unserer Sozialisation in der Familie, im Kindergarten oder der Schule gelernt haben. Gleiches gilt für Jungs, Männer und Frauen.

Schubladendenken – Warum wir andere in Schubladen packen

Das heißt wir kategorisieren. Das liegt in der Natur des Menschen. Denn nur so ist es uns möglich all die vielen Informationen schnellstmöglich abzuspeichern und in Interaktionen mit anderen adäquat und zügig zu reagieren. Nur so können wir die Komplexität der Gesellschaft bewältigen und Herr (bzw. Frau) der Lage werden. Nur so ist es uns möglich nicht im Dickicht der zahlreichen Handlungsalternativen zu versinken. Man sieht, welches Geschlecht der Gegenüber hat und weiß sofort, wie man sich zu verhalten hat (bzw. glaub es zu wissen). Auch andere Eigenschaften des Menschen dienen uns als Orientierung für unsere Interaktion, so zum Beispiel die Kleidung, die uns Aufschluss über den sozialen Status oder Interessen gibt, die Hautfarbe oder das Alter. Je nachdem, wie wir unseren Gegenüber einordnen, ob man ihn als ähnlich (gleiches Alter, gleiches Geschlecht, gleicher Kleidungsgeschmack, gleiche Kulturzugerhörigkeit) oder verschieden ansieht, wird eine Beziehung dem gegenüber aufgebaut. Ähnlichkeiten fördern Sympathie. Wir reden viel lockerer miteinander, finden eher Anhaltspunkte für Smalltalk, um das Eis zu brechen. Je unähnlicher wir den Gegenüber einschätzen, desto eher lassen wir von ihm ab. Zu groß die Distanz. Wir begegnen beispielsweise einem Mädchen, das gerne mit Autos spielt, oder einem Jungen in einem pinken Rock. Andere Kinder haben aber in ihren jungen Jahren verinnerlicht, dass Autos eher was für Jungs sind und Röcke, erst recht pinke Röcke, von Mädchen getragen werden. Andere Jungs in ihren coolen blauen Hosen und Spiderman-T-Shirts könnten daher Berührungsängste zu diesem Jungen aufbauen, der da mit einem pinken Röckchen daherkommt. Zu groß der Unterschied zum eigenen Ich. Zu verwirrend. Wie soll man als Junge auf diesen Sonderling reagieren?

Oder wir Erwachsene begegnen einem androgynen Menschen, dessen Geschlecht wir nicht einordnen können. Die Folge: wir sind hilflos. Denn die von uns gelernten Verhaltensschemata greifen nicht. Wir wissen nicht, wie wir reagieren sollen und schauen lieber weg.

So gesehen ist Schubladendenken an sich nichts Schlechtes. Die Einordnung der Männer und Frauen, der Mädchen und Jungen, hilft uns, nicht komplett den Überblick zu verlieren und beim Zusammentreffen völlig überfordert vor sich hin zu stammeln oder über das Wetter zu sprechen (das Thema geht ja bekanntlich immer).

Identität – Warum wir uns selbst in Schubladen packen

Aber noch ein anderer Vorteil ergibt sich durch die Kategorisierung. Wir können nicht nur unser Handeln dem frisch einsortierten Gegenüber anpassen, wir können uns auch selber in eine Schublade packen. Was das bringt? Identität.
Wir bilden unsere eigene Identität darüber auf, zu welchen gesellschaftlichen Gruppen wir uns einordnen. Ich bin eine Frau, mitteljung (ähm), Mutter, Ehefrau, Tante, Tochter, Chorsängerin, Freizeitvolleyballspielerin, usw. Ich gehöre einer Menge Gruppen an, deren Zugehörigkeit sich immer mal wieder wandelt. Aber ich bin lange genug in diesen Gruppen, um mir darüber eine Identität aufzubauen.

Schaut man in die Wissenschaft, findet man ganze Theorien, die sich mit dem Zusammenhang von Identitätsbildung und Geschlecht befassen, so beispielsweise die Identitätsthese von Collinson und Connell. Sie besagt, dass Männer sich von Frauen differenzieren, um ihre geschlechtliche Identität aufzubauen. Bei weiblichen primären Bezugspersonen (z.B. der Mutter) können sie ihre Geschlechtsidentität nur über Abgrenzung entwickeln. Männlich ist beispielsweise der, der anders ist, als die Mutter. Weiter verläuft die Entwicklung der geschlechtlichen Identität der Jungen über Rollenidentifikation. Jungen identifizieren sich mit kulturellen Vorstellungen über Maskulinität und Männer. Männer trinken Bier? Also muss ich Bier trinken, um ein Mann zu sein.
Mädchen bzw. Frauen hingegen identifizieren sich weniger über die Rolle, sondern eher über eine Person. Sie eifern Idolen nach, wie der Mutter, der Schwester oder auch prominenten Personen, wie Popstars oder Politiker.

Männer und Frauen SIND verschieden

Interessant an der Identitätsthese finde ich persönlich ja, dass sie davon ausgeht, dass Männer und Frauen ganz verschieden denken. Sie identifizieren sich auf unterschiedliche Art und Weise mit ihrem Geschlecht und stellen damit verbunden auch andere Schlussfolgerungen auf.

Im Gehirn von Männern laufen also einige Dinge anders ab, als bei Frauen (Ausnahmen selbstverständlich eingeschlossen). Das Buch „warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ hatte hierzu ein paar Punkte verdeutlicht. Genauso ist auch die körperliche Konstitution (in der Regel) verschieden.
Männer denken anders, Männer sind stärker. Männer und Frauen SIND verschieden. Das muss man bei all dem „Gender Mainstreaming“ anerkennen, also dem Wunsch danach, Männer und Frauen gleich zu behandeln, um Ungleichheiten aufzuheben.

Wenn „Gendern“ zum Problem wird

Warum wird dieses Gender Mainstreaming angestrebt? Ist es nicht toll, dass die Welt so verschieden ist? Ist es nicht klasse, dass es Frauen gibt, die die Einkaufszettel schreiben und Männer, die den Frauen die Einkäufe nach Hause tragen? Findet auf diese Weise nicht jeder seinen Platz in der Gesellschaft?

Irgendwie klingt das sehr einfach. Könnte es vielleicht auch sein, wenn sich aus der Tatsache, dass man einem bestimmten Geschlecht angehört, nicht Ungleichheiten entwickeln würden.

Einmal wird denjenigen der Weg versperrt, die von den bekannten Rollenerwartungen abweichen (wollen). Sie werden argwöhnisch angeschaut, kritisiert oder sogar ausgegrenzt. Oben hatte ich geschrieben, dass das Schubladendenken durchaus seine Vorteile hat. Problematisch wird es jedoch, wenn man diese Schubladen verschließt, ganz fest, und den Schlüssel die Toilette herunterspült. Wenn man nicht bereit ist, diese Schubladen neu zu sortieren, auszumisten und ganz neue, frische Gedanken hineinzufüllen.
Denn unsere Gesellschaft ist bunt. Und wir sollten auf Veränderungen unserer gewohnten Erwartungen nicht mit Unverständnis und Abgrenzung reagieren. Wir sollten offen sein für die verschiedenen Interessen.

Ein anderes Problem, das ich hier nur kurz anreißen möchte, entsteht, wenn sich aus diesen Kategorisierungen Nachteile für eine Geschlechterseite ergeben, beispielsweise in der Arbeitswelt. Kommen wir zu unserer Identitätsthese zurück. Hier hieß es ja, dass sich Männer über Rollen identifizieren. Auch geschlechtskonforme, eben „typisch männliche“ Berufe, haben für Männer eine identitätsstabilisierende Funktion. Frauen in männlichen Berufen werden daher zuweilen als Bedrohung wahrgenommen. Auch wenn dies unbewusst geschieht, werden Frauen in männlichen Berufen ausgegrenzt oder sogar herausgedrängt.
So gibt es noch zahlreiche andere Theorien, die sich mit der geschlechtsbedingten Ungleichheit am Arbeitsmarkt befassen, mit Diskriminierungen und anderen Benachteiligungen. Ich höre an dieser Stelle aber mal besser auf, weil es sonst zu viel wird (liest noch jemand mit?) ;-P

Epilog

Und wie sieht es nun bei uns aus? Was habe ich geantwortet, als Wirbelwind meinte, das pinkfarbene Fahrradschloss gehöre nicht an ein Jungs-Rad? Ich sagte das, was ich in diesen Situationen immer sage: Ich versuchte ihr zu erklären, dass auch Jungs pinke Schlösser haben können, oder das Laufrad vielleicht einem Mädchen gehört. Und insgeheim hoffte ich, dass sie ihre Schubladen ein klein wenig öffnete.
Vielleicht tat sie das auch. Denn sie starrte noch eine kurze Weile gedankenversunken auf das orangefarbene Laufrad mit dem pinken Schloss.

Eure Wiebke

Nachtrag: Da dies in dem Beitrag scheinbar nicht so deutlich wurde, möchte ich nochmal ein paar Worte dazu sagen.
1. Ich kritisiere NICHT Gender Mainstreaming.
2. Ich bin nicht rassistisch.
3. Dieser Artikel soll meine Meinung verdeutlichen, nämlich dass aus meiner Sicht Menschen nach Vereinfachung und Gruppierung suchen. Das soll keine Rechtfertigung für Unterschiede und Diskriminierungen sein. Es soll vielmehr der Ausgangspunkt sein, um Toleranz zu fördern. Man muss beachten, dass wir Menschen eben uns in Gruppen sicher fühlen. Wenn man den Menschen das wegnimmt, was identitätsstiftend ist, führt das aus meiner Sicht zu Nichts. Man muss Alternativen aufzeigen, Reflexion fördern und zeigen, dass man verschieden sein kann und darf. Aber eben nicht nur zweipolig.
Punkt.

3 Comments

  1. 20 März 2016 at 1:39 pm

    Sehr interessante Gedanken! Und bei deinem Fazit zu Szene 4 musste ich echt laut lachen 😀 So schnell geht das auch bei den Kleinsten mit den "Schubladen". Aber wie du ja geschrieben hast, hat es zum Glück nicht nur Nachteile, sondern auch den ein oder anderen Vorteil

  2. 20 März 2016 at 6:08 pm

    "Andere Jungs in ihren coolen blauen Hosen und Spiderman-T-Shirts könnten daher Berührungsängste zu diesem Jungen aufbauen, der da mit einem pinken Röckchen daherkommt. Zu groß der Unterschied zum eigenen Ich. Zu verwirrend. Wie soll man als Junge auf diesen Sonderling reagieren? … So gesehen ist Schubladendenken an sich nichts Schlechtes."

    Ich kann diesem Gedanken nichts Positives abgewinnen. Ausgrenzung, Anpassung, Einordnen aufgrund von Oberflächlichkeiten. Ich sage ja nicht, dass es nicht zunächst einmal zum Welt Ordnen/Einteilen/Urteilen dazugehört, aber es gut zu heißen funktioniert, glaube ich nur, wenn sich eins wohl fühlt innerhalb der ihm/ihr zugewiesenen Schublade. Und wie sehr wir dadurch beeinflusst werden im Lauf unseres Großwerdens und dass wir womöglich sehr oft von dem ablassen, was wir "eigentlich" wollten, das geht im gemütlichen Zurücklehnen "Es ist doch gut so, wie es ist" unter. … Empfinde ich so und habe das hier ausführlicher geschrieben: http://ich-mach-mir-die-welt.de/2016/03/ich-bin-pessimistisch/

    viele Grüße aus der Rosa-Hellblau-Falle
    schickt
    almut

    • 20 März 2016 at 7:06 pm

      Hallo Almut, danke für Deinen Kommentar. Ich gebe zu, dass mein Artikel etwas provokativ formuliert ist. Gruppenbildung und Identifikationsprozesse sind jedoch ganz normale Vorgänge, die sozialpsychologisch hinlänglich bekannt und anerkannt sind. Ich wollte die Aufmerksamkeit darauf legen.
      Natürlich soll dies keine Entschuldigung für Diskriminierungsprozesse jeglicher Art sein! "Es ist doch gut so, wie es ist", denke ich bei Weitem nicht. Ich meine lediglich, dass die Gruppenbildung an sich (für mich) zunächst nachvollziehbar ist. Dass man daraus nicht die falschen Schlüsse zieht, dafür sind wir als Eltern und Menschen des gesellschaftlichen Lebens verantwortlich!!!
      Ich hoffe meine Gedanken sind nun etwas klarer!
      Viele Grüße in die Rosa-Hellblau-Falle 😉
      Wiebke

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