„Oh, noch eine Tani!“

Kastanien sammeln

„Oh, noch eine Tani!“, ruft Wirbelwind begeistert und bückt sich erneut, um das braune Gold zwischen den Blättern hervorzuwühlen und aufzuheben. Die Kastanie hat kaum Platz in ihren kleinen Händchen, die bereits drei weitere „Tani“ beherbergen. Immer wieder plumst eine Kastanie aus ihrer Hand. Doch das tut dem Sammlertrieb keinen Abbruch…

Wir sind auf dem Weg zum Kindergarten. Bis eben war sie mit dem Laufrad flott unterwegs, so dass ich hinterherhechelnd kaum mitkam. Zumindest, bis wir an diesem Kastanienbaum vorbeikamen. Ich sehe die Kastanien auf dem Weg liegen und ignoriere sie bewusst, um Wirbelwind nicht darauf aufmerksam zu machen. Hah, falsch gedacht. Sie hält natürlich an, legt ihr Laufrad hektisch ab, ruft nach ihren geliebten „Tani“ und ist in ihrer Sammlerwelt eingetaucht. Während sie die Kastanien hortet, schaue ich auf die Uhr. Wir sind spät dran, aber ich möchte sie nicht in ihrer Begeisterung bremsen. Ich merke, dass sie ein Lächeln auf meine Lippen zaubert. Diese kindliche Neugier, diese Begeisterung für etwas, das wir Erwachsene keines Blickes mehr würdigen (zumindest solange, bis wir selber wieder Kinder haben). Es so erfrischend.

Ich bewundere, wie bei den Kleinen die Zeit stehen bleibt, wenn sie etwas Spannendes entdecken. Und das passiert in dem Alter sehr oft. Sie vergessen einfach alles um sich herum, sammeln Kastanien, schleppen Sand hin und her, stochern in Astlöchern herum, haschen Seifenblasen. Alles andere scheint nebensächlich. Die Welt wird plötzlich ganz klein, friedlich und kunterbunt.

Und ich? Ich sehe auf einmal überall Kinder unter Kastanienbäumen hocken, mit riesigen Beuteln und daneben deren Eltern mal mehr und mal weniger verständnisvoll daneben stehen, oder vielleicht sogar einen Ast werfen, um noch weitere Kastanien herunterzuholen. Wo kommen diese Kinder auf einmal her? Gab es die früher auch schon? Ihr wisst schon, damals, als man selber noch keine Kinder hatte, da gab es doch auch nicht so viele Schwangere, Kinderwagen oder Kinder auf der Straße. Doch plötzlich fällt es einem auf. Es ist schon erstaunlich, wie die berühmte „selektive Wahrnehmung“ einen einen Streich spielt. Und genauso habe ich früher nie erkennen können, wie wundervoll diese Wesen mit ihrer naiven, kindlichen Art sein können. Ich sah immer nur plärrende Babys und übermütige Kinder. Doch jetzt, jetzt sehe ich. Ich sehe, welche unbeschwerte Art sie an den Tag legen können. Ich sehe, wie sie an Dinge herangehen. So unkompliziert. Und wenn ihnen etwas nicht passt, dann wird es auch sofort mitgeteilt. Man weiß woran man ist. Sie verstecken sich nicht, sie zeigen ihre Gefühle offen. Und – um wieder zum Thema zurückzukommen – sie zeigen mir, dass die Welt aus viel mehr besteht, als aus Termindruck, direkten Wegen und sturem Blick gerade aus. Man sollte auch mal nach Links und Rechts sehen, um die Schönheit der Natur nicht zu vergessen.
Ich lasse mich von Wirbelwinds Sammelleidenschaft etwas treiben und vergesse selber für einen Augenblick die Zeit. Ich lächele immernoch, als ich dann doch auf die Uhr sehe. Nun muss ich Wirbelwind in seinem Spiel unterbrechen. Schade eigentlich. Ich vertröste auf den Nachmittag. Schon schnappt sie sich ihr Laufrad und radelt Richtung Kindergarten. Die Kastanien sind vergessen. Noch so ein Phänomen bei Kindern. Zumindest bis zum nächsten Kastanienbaum.

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