Auszeit in der Umkleidekabine
Plötzlich stand er vor mir, der Zweitklässler. Mit Tränen in den Augen und die Hände ganz fest auf die Ohren gepresst. Es sei zu laut. Die Kinder rufen zu laut die Namen der anderen. Es sieht ein wenig aus, als hätte er die falsche Musik auf den Ohren und bekommt die Kopfhörer nicht ab. Kann den Ton des Schulalltags nicht leiser drehen oder gar auf lautlos schalten. Im Gegenteil. Irgendjemand hat ihn auch noch richtig stark aufgedreht.
Wir spielen Zwei-Felder-Ball. Ich vertrete gerade eine Sportstunde. Ja, es ist laut. Aber das ist dem Spiel geschuldet. Auch meine Ohren klingeln. Ich schicke den Jungen in die Umkleide. Dort kann er Abstand halten – vom Lärm, vom Tumult. Den Ton leiser drehen. Am Ende der Stunde hat er sich beruhigt. Aber die sprechenden Kinder in der Umkleide machen ihm weiter zu schaffen. Schnell zieht er sich an und geht raus.
Sensibel in der Schule
Abends habe ich über die Situation noch einmal nachgedacht. Und ich merke, wie viel von mir in diesem Jungen steckt. Immer wieder bin auch ich im Spiel des Alltags gefangen und die Mitspieler tönen mir viel zu laut. Immer wieder suche ich meine persönliche Umkleidekabine, um Abstand zu halten und herunter zu kommen.
Augen auf bei der Berufswahl, würde ich da sagen. Früher saß ich in einem Büro. Hatte meine Ruhe. Zu viel Ruhe. Meinem Körper tat das gut, aber nicht meinem Geist. Heute ist es umgekehrt. Mein Geist bekommt die Abwechslung und Herausforderung, die er braucht. Ich fühle mich erfüllt und ausgelastet. Ich mache genau die Tätigkeit, die – so mein Gefühl – meine Berufung ist.
Nur der Körper merkt die Veränderung. Merkt, dass er jetzt mehr einstecken muss. Als Lehrerin hat man eben viel Kontakt zu Kindern, die nicht den ganzen Tag mucksmäuschenstill in der Ecke sitzen (Zum Glück!). Meistens komme ich mit dieser Veränderung gut klar. Nach einem Tag mit sechs Unterrichtsstunden merke ich jedoch deutlich, wie mein Körper nach einer Auszeit schreit. Dann bin ich abends platt und bereite mit dröhnendem Kopf den Unterricht für den nächsten Tag vor.
Meine persönlichen Strategien
Meine Strategien? Wenn die Zeit dafür da ist, lege ich mich nach der Schule auf das Sofa und versuche etwas abzuschalten oder sogar zu schlafen, um die Eindrücke des Schulalltags zu verdauen und wieder empfänglich zu sein für Neues. Zum Glück spielen die Kinder oft draußen mit den Nachbarskindern oder sind beim Sport, so dass ich hier auch Zeit für mich herausholen kann.
Um den Kopfschmerzen vorzubeugen, habe ich meinen Süßigkeitenkonsum deutlich heruntergefahren. Das funktioniert erstaunlich gut. Wenn ich am Vortag eines stressigen Tages nichts genascht habe, dann bleibt der Kopf schmerzfrei.
Auch habe ich weniger (Verspannungs-)Kopfschmerzen, seitdem ich auf Barfußschuhe umgestiegen bin. Das Laufen in weiten, dünnbesohlten Schuhen hilft mir, meine Muskulatur besser zu nutzen und Verspannungen abzubauen (so meine Interpretation).
Bin ich hochsensibel? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich empfindlich auf Geräusche reagiere. Doch solange ich meinen Rückzugsort habe – meine persönliche Umkleidekabine – kann ich auch in einem tumultigen Beruf bestehen.
Eure Wiebke
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