Wären meine Kinder als Einzelkinder anders?

Wie prägt das Geschwistersein die Persönlichkeit

In Gedanken versunken ging ich die Treppen hinauf. Ich dachte an meine Kinder, die ich gerade eben im Kindergarten abgegeben habe. Mein Wirbelwind und mein Wölkchen, die so unglaublich verschieden sind, in dem, was sie können, wie sie sich entwickeln und wo ihre Interessen liegen. Beide Personen in einer vereint wären das perfekte Kind, das alles kann. Das sind seltsame Gedanken, ich weiß. Aber manchmal kommt eben so ein Wirrwar aus mir heraus.

Weiter habe ich noch gar nicht gedacht, da stieß ich auf den Artikel von der lieben Frühlingskindermama mit dem passenden Titel „Suchen sich Geschwisterkinder ihre Nischen?“. Ich horchte gleich auf und verschlang ihre Worte. Die Autorin bezieht sich unter anderem auf Frank Sulloway und seine These, dass Kinder Nischen besetzen und so ihre Persönlichkeit formen.

Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen. Wen es interessiert, der kann sich gerne in den genannten Links austoben. Ich möchte jedoch den Beitrag zum Anlass nehmen einmal festzuhalten, was an meinen Kindern so verschieden ist und ob ich denke, dass diese Verschiedenartigkeit lediglich dem Geschwisterstatus geschuldet ist.

So unterschiedlich sind sich meine Kinder

Über die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit meiner beiden Kinder habe ich bereits hier berichtet. Das ist jedoch ein Jahr her und inzwischen hat sich gerade Wölkchen enorm weiter entwickelt. Den aktuellen Stand möchte ich hier daher erneut festhalten.

Grobmotorik

Wenn man sich die grobmotorische Entwicklung anschaut, so haben Wölkchen und Wirbelwind recht zeitgleich wesentliche Entwicklungsschritte gemacht. Manchmal war Wölkchen schneller. Auffällig war hier allerdings, dass Wirbelwind seine Meilensteine dafür sicherer gemacht hat. Es ist, als ob sie gewartet hatte, dass sie es auch wirklich richtig konnte, ehe sie es wagte. Wölkchen hingegen ist da deutlich unbedarfter und tut es einfach. So lief sie ein paar Tage eher, als Wirbelwind damals. Dafür fiel sie aber sehr oft hin und stakst auch heute mit 18 Monaten noch so herrlich unbeholfen umher. Wirbelwind hingegen lief und lief und lief. Nicht einmal fiel sie hin, weil sie wartete, bis sie es richtig konnte. Vorher ließ sie meine Hand nicht los. Und mit 18 Monaten dachten alle, sie wäre bereits 2 Jahre alt, weil sie so sicher durch die Gegend flitzte. Auch im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung überraschte sie uns immer wieder. Mit zwei Jahren fuhr sie Laufrad und turnte souverän auf Klettergerüsten herum, mit drei Jahren fuhr sie Fahrrad, mit vier Jahren schwamm sie selbstständig (mit Schwimmflügeln) im Wasser, und nun, mit 4 1/2 Jahren steht sie gleich beim ersten Versuch erstaunlich sicher auf dem Eis. Ich bin mir sicher (ohne Wölkchen gegenüber voreingenommen oder gar wertend sein zu wollen), dass sie diese Erfahrungen etwas später machen wird. Oder zumindest etwas chaotischer 😉

Feinmotorik

Häufig ist es ja so, dass ein Bereich bei Kindern etwas stärker ausgeprägt ist. Ist es bei Wirbelwind eindeutig die Grobmotorik, so kann ich behaupten, dass unser Wölkchen sich die Feinmotorik auserkoren hat. Dinge, die die Feinmotorik schulen, waren für Wirbelwind lange Zeit uninteressant. Schon als Baby interessierte sich Wölkchen deutlich stärker für Details an Gegenständen, was für mich bereits auf ein Grundinteresse hinweist, welches feinmotorische Handlungen erfordert. Denn Wölkchen griff nach kleinen Bändern, haschte nach den Etiketten ihres Schmusetuches, strich durch mein Haar oder knaupelte Fusseln von der Decke. Schon früh beherrschte sie den Pinzettengriff und kostete diese neue Errungenschaft aus. Und jetzt liebt sie Steckspiele, malt und puzzelt (!). Während Wirbelwind erst jetzt mit vier Jahren das Puzzeln für sich entdeckt, steckt Wölkchen bereits die ersten Puzzelteile zusammen. Nun gut, damals besaß Wirbelwind noch keine solchen Puzzle, hatte also nicht die Gelegenheit. Allerdings hatte sie diese Holzpuzzle, die ebenso Wölkchen heute viel stärker interessieren als Wirbelwind damals.

Und auch wenn es nicht so recht in die Feinmotorik hineinpasst, sei es der Vollständigkeit halber genannt: Wölkchen ist viel ordentlicher als Wirbelwind. Sie liebt es, Dinge aus etwas herauszunehmen und wieder zurückzustecken. So etwas hat Wirbelwind nie getan. Sie beließ es beim Herausholen, wenn überhaupt. Und so hat Wölkchen seine ganz feste Vorstellung darüber, was wo hinzugehören hat. Wenn sie etwa ein Buch anschaut und dann zum Zähneputzen gerufen wird, dann steckt sie dieses erst zurück, ehe sie bei mir erscheint. Ok, das klappt nicht immer, aber doch häufig genug, um Erwähnung zu finden.

Essen

Tja und dann gibt es noch so kleine, aber feine Unterschiede zwischen den Beiden. Wölkchen ist beispielsweise ein viel besserer Esser. Aktuell isst Wölkchen beim Frühstück bzw. Abendbrot genauso viel, wenn nicht sogar mehr als ihre große Schwester. Und während Wirbelwind am zweiten Mandarinenstück knabbert, hat Wölkchen bereits die gesamte Frucht verschlungen.

Viele Dinge mögen beide gerne. Während Wirbelwind aber beispielsweise keine gegarte Paprika mag, verschlingt sie Wölkchen in Massen. und wo Wölkchen bei Zucchini zurück schreckt, langt hingegen Wirbelwind zu. Hier ergänzen sie sich prima, wenn ich eine Zucchini-Paprika-Pfanne mache 😉 Zudem hält sich Wirbelwind beim Abendbrot lieber an Fleisch und Wurst, Wölkchen hingegen verlangt regelmäßig ihren Käse.

Angst

Oben klang es bereits heraus: Wirbelwind ist grundsätzlich eine sehr vorsichtige Person. Sie macht Dinge überlegt und nur, wenn sie sich sicher ist, dass sie es kann. Das Laufenlernen war nur ein Beispiel. Gleichzeitig mag sie keine lauten Geräusche (außer sie produziert sie selber). Staubsauger und Fön waren ihr von Beginn an Suspekt. Und auch heute verlässt sie noch das Bad, wenn ich den Fön auspacke.

Wölkchen hingegen ist ein kleiner Rabauke. Sie denkt nicht viel darüber nach, was sie tut. Sie macht es einfach. Manchmal geht es leider auch nach hinten los, wie aktuell auch ihr blaues Auge verdeutlicht. Aber das ist eben auch eine Möglichkeit sich und seine eigenen Grenzen kennen zu lernen. Laute Geräusche kann Wölkchen auch besser ab. Wenn ich in ihrer Gegenwart den Fön heraushole, dann flitzt sie nicht weg, sondern stellt sich demonstrativ vor mich und jauchzt vor Freude so laut mit, dass ich schwer ausmachen kann, wer lauter ist: der Fön oder Wölkchen.

Nähebedürfnis

Aber der krasseste Unterschied zwischen beiden ist wohl das Nähebedürfnis. Ich gebe es zu: ich habe es als Mutter von Wirbelwind wirklich vermisst, dieses Kuscheln. Wirbelwind wollte es einfach nicht, und braucht es auch jetzt noch nicht. Zwar kam sie ab und an, um bei mir zu sein. Aber es artete IMMER in einem Gerangel und Gekitzel aus. Einfaches Schmusen Fehlanzeige. Klar sieht sie es bei Wölkchen und möchte nun auch mit mir kuscheln. Allerdings geht es hier eher um ein Aufmerksamkeit haschen, als um ein echtes Nähebedürfnis. Wölkchen forderte die Nähe von Beginn an ein. Als Wirbelwind im Kinderwagen lag, trugen wir Wölkchen durch die Gegend. Als die Große später bereits in ihrem Bettchen schlief, kuschelte sich Wölkchen noch in unser improvisiertes Familienbett. Und auch heute kommt Wölkchen immer wieder angelaufen und möchte einfach von mir in den Arm genommen werden. Einfach so, weil ihr die Nähe so gut tut und sie es liebt meine (oder Papas) Körpernähe zu spüren. Ja sogar Wirbelwind wurde bereits des Öfteren innig gedrückt, wenn sich die zwei eine Weile nicht gesehen haben. Und immer gingen die Umarmungen von Wölkchen aus.

Sind Persönlichkeitsstrukturen angeboren oder erlernt?

Und nun stellt sich mir die Frage. Sind diese Interessen und Verhaltensweisen angeboren? Wurden Sie den Kindern quasi in die Wiege gelegt? Oder ist es so, wie Frank Sulloway sagt und Wölkchen hat sich ganz bewusst die Nischen gesucht, die bislang noch nicht von Wirbelwind besetzt waren?

In der Zwischenüberschrift spreche ich von Persönlichkeitsstrukturen. Ok, Motorik und Nähebedürfnis sind jetzt keine Persönlichkeitseigenschaften. Aber es geht hier ja auch um generelle Verhaltensweisen, die Ausdruck einer dahinter stehenden Persönlichkeit sein können. Inwieweit die eigentlichen Persönlichkeitsmerkmale (Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Neurotizismus, Offenheit) ausgeprägt sind, kann ich in diesem Entwicklungsstadium meiner Kinder nun beim besten Willen noch nicht beurteilen. Daher der Umweg über die Fähigkeiten und Interessen.

Motorik

Auffallend ist, dass sich die beschriebenen Vorlieben bereits sehr früh zeigten, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich das Kind, also in diesem Fall Wölkchen, noch überhaupt nicht im Klaren darüber war, dass es eine eigenständige Persönlichkeit ist. Wie kann sie sich – bewusst oder unbewusst sei mal dahin gestellt – von etwas abgrenzen, das Ihr von ihrer kognitiven Entwicklung her noch überhaupt nicht möglich ist zu erfassen? Sprich wenn sie nicht weiß, dass Wirbelwind eine andere Person ist, warum sollte sie sich dann eine Nische jenseits ihrer großen Schwester suchen? Zumindest was die Motorik anbelangt bin ich mir sicher, dass diese Interesse wirklich einfach da sind und unabhängig vom Geschwisterkind veranlagt sind. Das heißt auch wenn Wirbelwind und Wölkchen Einzelkinder wären (was Wirbelwind ja drei Jahre lang war), hätten sie diese Vorlieben gezeigt. Dessen bin ich überzeugt.

Essen

Ich denke nicht, dass Wölkchen so viel isst, weil sie sieht, dass Wirbelwind eher ein Wenigesser ist und sich von ihr distanzieren möchte. Eines ist jedoch interessant: Wölkchen isst sehr gerne Bananen. Das hat auch Wirbelwind getan. Seit Neustem möchte sie jedoch lieber einen Apfel, wenn ich Wölkchen gerade eine Banane zugesteckt habe. Es ist, als ob sie ganz bewusst das Gegenteil wählt.

Angst

Beide Kinder reagierten von Geburt an stark auf ihre Umgebung. Beide Kinder waren als Babys schnell überreizt und von der Flut an Informationen schlichtweg überfordert. Dass sich daraus bei Wirbelwind ein vorsichtiges und teilweise auch ängstliches Kind entwickelt, überraschte mich nicht. Erstaunter bin ich dann eher, wie unterschiedlich sich Wölkchen entwickelt hat, obwohl sie sich in der anfänglichen Babyzeit so ähnlich waren. Diese Neugier, dieser Mut und diese Freude an lauten Geräuschen: woher kommt das? Was haben wir hier anders gemacht? Oder ist es Veranlagung? Oder grenzt sich auf diese Weise Wölkchen doch von Wirbelwind ab?

Nähebedürfnis

Schon manchmal habe ich mich gefragt: wäre Wölkchen auch so verschmust, wenn es Wirbelwind nicht geben würde? Oder nutzt sie diese extra-Kuscheleinheiten, um mich (oder Papa) auch mal für sich alleine zu haben? Denn diese ungeteilte Aufmerksamkeit ist ein Privileg, das dem zweiten Kind leider zu selten zu Teil wird. Wirbelwind konnte sich drei Jahre lang sicher sein, dass meine ganze Liebe ihr gehört. Wölkchen hat diese einzigartige Behandlung nie erfahren. Möchte sie mit dem nächtlichen Kuscheln ein Stückchen Exklusivität zurückholen? Schon häufig habe ich von anderen Familien gehört, dass das zweite Kind kuscheliger und anhänglicher ist, als das erste. Ist das dieses „Nischensuchen“, von dem die Frühlingskindermama eingangs gesprochen hat? Wäre Wölkchen nicht so verschmust, wenn sie Wirbelwind nicht als großes Geschwisterchen hätte? Um ehrlich zu sein: aus meinem tiefsten Innersten denke ich, dass Wölkchen auch dann so verschmust wäre. Denn schon in den ersten Tagen wollte sie lieber herumgetragen werden, als herumzuliegen. So schnell wird man doch nicht von seinem Geschwisterchen geprägt, oder?

Eine Antwort auf die Frage werde ich wohl nicht finden. In der Wissenschaft, insbesondere der Entwicklungspsychologie, herrscht der Konsens vor, dass Persönlichkeitsstrukturen immer beide Teile enthalten: genetische Veranlagung UND Einflüsse der Umwelt. Es ist also durchaus denkbar, dass sich Kinder – geprägt durch Umweltweinflüsse, wie eben ein Geschwisterkind – Nischen suchen und sich die Entwicklung ihrer Persönlichkeit daran orientiert.

Wären meine Kinder als Einzelkinder anders?

Ja, das wären sie, keine Frage. Denn dann würde sich der Umwelt-Aspekt deutlich ändern. Zur Umwelt zählen auch Faktoren wie Erziehungsstil und Familienkonstellation (gibt es eine Mutter/ einen Vater, handelt es sich beim Kind um das Erst- oder das Zweitgeborene…). Nicht umsonst wurde der Begriff „Sandwichkind“ geprägt, der die besondere Konstellation eines Geschwisterkindes mit einem älteren und jüngeren Geschwisterchen beschreibt. Denn (nicht nur) diese Konstellation hat wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. Also ja, ich bin davon überzeugt, dass meine Kinder anders wären, wenn sie kein Geschwisterchen hätten. Und ich bin davon überzeugt, dass an der Tatsache, dass wir nun zwei Kinder in der Familie haben, beide ihr Leben lang zu knabbern haben (hoffentlich im positiven Sinne!).

Ich merke es jetzt bereits an Wirbelwind, dass sie sich verändert hat. Drei Jahre lang war sie ein Einzelkind. Nun ist sie seit 18 Monaten die große Schwester. Sie ist selbstständiger geworden, aufmerksamer und rücksichtsvoller. Natürlich muss sie auch viel zurückstecken und lernt auf diese Art und Weise aus meiner Sicht viel darüber, auch auf die Bedürfnisse von anderen zu achten.

Und die Frage mit der Nische, die greife ich in zehn Jahren noch einmal auf. Dann sind die Unterschiede und Zusammenhänge vielleicht noch etwas deutlicher. 😉

Eure Wiebke

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