Wenn das Kind springt – zwischen Kontrolle und Vertrauen

Kind springt - von Kontrolle und Vertrauen

Etwas unentschlossen steht Wölkchen am Fuße des Klettergerüstes. Gerade eben sah sie, wie ihre große Schwester von der oberen Plattform in den Kies sprang und würde es jetzt so gerne selber tun. Ein Blick auf ihre Schwester. Ein Blick zur Plattform. Ein Blick zu mir. Ich frage sie, ob sie auch von dort hinunterspringen möchte. Sie zögert, aber alle Fasern ihres Körpers haben mir schon längst die Antwort gegeben. Etwas unschlüssig spielt sie mit ihren Fingern. Schließlich nimmt sie meine Hand und klettert den Baumstamm hinauf, bis sie ganz oben angekommen ist. Ich lächele Ihr aufmunternd zu und bleibe – wie sie es wünscht – in ihrer Nähe. Ihre Füße nähern sich dem Rand der Plattform. Sie hockt sich hin. Wartet. Noch einmal schaut sie in mein zuversichtliches Gesicht. Dann springt sie.

Mein Herz springt auch. Denn auch wenn ich mich nach Außen so „cool“ gebe, rattern doch unzählige Szenarien durch meinen Kopf: „Was ist, wenn sie sich den Fuß verletzt? Oder wenn sie sich mit ihrem Kopf am Balken stößt? Was ist, wenn sie die Kontrolle verliert und nicht auf ihren Füßen landet? Und überhaupt: das ist doch total schlecht für ihre Wirbelsäule“. Aber ich schlucke die Bedenken herunter und lächle.

Zwischen Kontrolle, Ängsten und Vertrauen

Noch vor ein paar Tagen hätte vielleicht sogar gesagt: „Oh das ist aber hoch. Nimm` lieber meine Hand.“ Aber inzwischen bin ich um (nicht nur) eine Erkenntnis reicher, dank dem Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn – Gelassen durch die Jahre 5-10“ vom Wunschkind-Blog (dort findet Ihr auch den Link zum Buch).

Abgesehen davon, dass mir alle paar Sätze mit einem leisen (und manchmal auch lauteren) Pling ein Lämpchen aufleuchtet, fand ich die folgende Erkenntnis besonders spannend: Die Autorinnen beschreiben das Phänomen, dass Angst, Antriebslosigkeit und Depressionen durch den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben  hervorgerufen werden können.

„Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen, immer wieder an eigene Grenzen zu gehen und über sich hinauszuwachsen, ist als Grundbedürfnis in unserem menschlichen Entwicklungsplan verankert. […] Es ist dementsprechend nicht verwunderlich, dass es unweigerlich zu schlechter Laune, (…) Aggression, Missmut oder Antriebslosigkeit führt, wenn dieses Grundbedürfnis nach Weiterentwicklung und Überschreitung eigener Grenzen nicht ausgelebt und befriedigt werden kann“. (S. 132f)

Das passiert genau dann, wenn wir Eltern die Kontrolle über unsere Kinder übernehmen. Wenn wir sie aus Angst, Ihnen könnte etwas zustoßen, in Watte packen und ihnen nichts erlauben. Oder wenn wir jeden Schritt, den sie tun, kontrollieren und ihnen keine Freiheiten zugestehen, kein Vertrauen schenken. Wenn wir nicht in die Kinder vertrauen, wie sollen sie es dann schaffen, in sich selbst Vertrauen aufzubauen?

Immer wieder merke ich, dass meine Kindheit irgendwie anders verlief, als es bei meinen Kindern der Fall ist. Alles läuft heute in engeren Bahnen, unfreier, bewachter und behüteter. Sicherlich, wir Eltern wollen für unsere Kinder nur das Beste: Gesundheit, Erfolg, Glück. Doch die Frage ist, inwieweit wir ihnen damit genau das nehmen?

Ich für meinen Teil habe beschlossen, meinen Kindern von nun an mehr Freiheiten zu geben. Wenn sie sich schon dem großen Ganzen irgendwie fügen müssen, dann sollen sie wenigstens die kleinen Freiheiten im Alltag erfahren. So mein Vorsatz. Ob mir das gelingt, ist eine andere Frage. Aber in diesem Moment, in dem Wölkchen von der Plattform springt, bin ich dem ein ganzes Stückchen näher gekommen.

Wenn Wölkchen springt…

Egal was bei dem Sprung Schlimmes passieren kann, es wären nur äußerliche Wunden. Verletzungen, die verheilen. Und auch wenn wir unsere Kinder so gerne vor Verletzungen schützen wollen, so sind es eben auch die, welche unseren Kindern einen realistischen Blick auf das freigeben, was sie selber können, oder eben (noch) nicht. Sie lernen sich selber einzuschätzen, Gefahren abzuwägen und ihre eigenen Fähigkeiten zu bewerten. Basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, und nicht auf den von Ängsten geleiteten Einschätzungen Erwachsener.

Aber viel wichtiger finde ich die Chance, die die positive Bewältigung solch eines Sprunges bewirken kann: Wölkchen lernt, dass es sich lohnt mutig zu sein. Dass es sich lohnt Ziele zu haben, diese durchzuziehen und dabei auf den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen. Ist das nicht wunderbar?

Nach dem Sprung

Etwas unsanft landete Wölkchen im Kies. Ihre rechte Hand berührte einen nahe stehenden Balken. Ich hielt den Atem an. Etwas schockiert schaute sie umher. Sie musste erst einmal für sich selbst das Erlebte sortieren, diesen Ruck, der durch ihren Körper ging, diese Grenzerfahrung. Stille.

Zwei Sekunden. Mehr dauerte es nicht, dann wandelte sich ihr Blick in ein breites Grinsen. Sie strahlte mich an und war so unglaublich stolz auf sich und das, was sie gerade getan hatte. Wie eine Große. Wie ihre große Schwester, ihr Vorbild. „Nochmal!“ rief Wölkchen mir zu und begann bereits wieder den Aufstieg.

Und vielleicht irre ich mich, aber war sie jetzt ein klein bisschen größer als zuvor?

Eure Wiebke

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