Wann hört man auf über seine Kinder zu staunen?

Ist es nicht toll, was Wölkchen alles kann?!

„Mama, schau mal!“, ruft Wirbelwind zum x-ten Mal an diesem Tag mir zu. Ich löse meinen faszinierten Blick von Wölkchen und schenke Wirbelwind für einen Moment meine Aufmerksamkeit. Sie will mir zeigen, wie schön leer sie ihren Joghurtbecher gelöffelt hat. Mir wird klar, dass ich ihr viel weniger Aufmerksamkeit schenke, als dem kleinen Wölkchen. Denn der leere Joghurtbecher ist wohl kaum so spektakulär, dass ich ihn mir UNBEDINGT anschauen muss. Sie will, dass ich sie ansehe, richtig ansehe. Und während ich das denke ertappe ich mich dabei, wie meine Augen wieder zu Wölkchen wandern.

Faszination Wölkchen

Es ist aber auch schwer den Blick von ihr zu lösen. Wölkchen ist jetzt etwas über ein Jahr alt. Die Babyzeit hat sie hinter sich gebracht und nun erforscht sie ihre Welt mit allen Sinnen. Sie entdeckt und imitiert Mimiken und Gestiken. Sie erkundet Essen, Spielzeug und alles, was dazwischen liegt. Es ist eine so spannende Zeit und ich habe bereits jetzt das Gefühl, dass ich viel zu viel davon verpasse, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin den verflixten Alltag zu überstehen. Und so sauge ich diese Momente auf, wie ein Schwamm:

  • Wölkchen versucht wie ein tolpatschiger Bär am Honigtopf mit ihren süßen Händchen eine kleine Cremetube zurück in ihren Karton zu stecken. Ganz konzentiert geht sie vor, gibt keinen Ton von sich und hat die Augen nur auf ihre Hände gerichtet.
  • Sie versucht mir zu erklären, was sie bewegt. Mit großen Gesten und melodischen „Ö`s“ und „Da`s“ in kopfiger Tonlage plaudert sie aus dem Nähkästchen. „Schau mal Mama, da die Puppe hat so lustige Haare“ oder „Oh Mama, der Ball ist gerade unter die Kommode gerollt und ich komme nicht heran“ kann ich sie in diesen Momenten reden hören und ich scheine alles zu verstehen.
  • Sie gackert so herrlich drauflos, wenn man mit ihr Späßchen macht. Wenn man sie kitzelt, wenn man sich einen Luftballon vor den Kopf haut und „Oah“ ruft, wenn man Kuckuck spielt oder auch wenn Wirbelwind sie neckt. Es ist dieses Lachen über die nicht-alltäglichen Dinge, das „Unnormale“, das in diesem Alter so erfrischend ist.
  • Sie zupft so süß an ihrem Schmusetuch, wenn sie müde ist und kuschelt sich an mich, als wäre ich das weicheste Kissen der Welt.
  • Sie reicht mir die leere Milchflasche, um mir zu sagen, dass sie Hunger hat. Seit wann kann sie denn so etwas?
  • Sie stochert voller Eifer mit ihrer Gabel im Essen herum. Weil sie nichts drauf bekommt, nimmt sie die Möhre in die Hand und piekst sie sich einfach selber drauf. Also da darf man doch verzücken, oder?
  • Sie hockt vor dem Kühlschrank, macht einen Magnet nach dem anderen ab und, das ist das Überraschende, wieder dran.
  • Immer wieder stellt sie sich hin und grinst mich dabei an. Mit hängender Zunge setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ich feuere sie an.

Kennt Ihr das? Es ist wie Premium-Kino, nur ohne Eintrittskarte und Popcorn. Man hat quasi einen Exklusiv-Zutritt zu den spannendsten Abenteuern, den aufregendsten Dramen und den lustigsten Komödien. Man kann und will seinen Blick einfach nicht mehr davon lösen. Störfaktoren, wie Haushalt, werden zweitrangig.

Wann hört das Staunen auf?

Das alleine wäre ja jetzt nicht weiter schlimm und wohl keinen gesonderten Post wert. Was mich nachdenklich gemacht hat ist vielmehr, dass mein Blick auf die Große, Wirbelwind, inzwischen ein ganz anderer geworden ist. Es war ein schleichender Prozess, doch in Kontrast zu Wölkchen wird mir es jetzt erst richtig bewusst. Auch Wirbelwind habe ich früher angegafft, während mir der Sabber vor Staunen aus dem Mund lief. Ganz fasziniert von ihrem Tun folgte ich ihr durch ihre bunte Welt und staunte über die Direktheit und Ehrlichkeit dieser kleinen Person. Heute ist es Wölkchen.

  • Wölkchen schläft – mein Herz pocht bei dem süßen Anblick der hochgestellten Ärmchen.
  • Wirbelwind schläft – ich kontrolliere, ob sie mal wieder das Kissen vollgesabbert hat.
  • Wölkchen räumt Legosteine aus – ich freue mich über ihr selbstständiges Spielen.
  • Wirbelwind räumt Legosteine aus – ich frage mich, wer die Steine am Ende wieder einräumen muss.
  • Wölkchen schaut neugierig in meine Tasche – ich gucke amüsiert zu (zumindest bis sie mein Portemonnaie ausräumt).
  • Wirbelwind schaut in meine Tasche – ich verbiete es ihr.
  • Wölkchen reicht mir ihre Schuhe, damit ich sie ihr anziehe – ich bin entzückt.
  • Wirbelwind reicht mir ihre Schuhe – ich kommentiere: Die kannst Du Dir doch schon selber anziehen

So könnte ich die Liste unendlich fortsetzen mit Dingen, die Wölkchen (noch) darf und Wirbelwind nicht, und Dingen, die mich bei Wölkchen in Verzückung versetzen und bei Wirbelwind nur noch Kopfschütteln verursachen.

Warum staune ich nicht mehr bei Wirbelwind?

Warum ist das so? WARUM staune ich viel zu selten über Wirbelwind? Natürlich fällt der Niedlichkeitsbonus irgendwann weg. Babys und Kleinstkinder sind süß. Da dürfen sie sich eben auch mehr herausnehmen, als ältere Kinder.
Und genau das hat wohl auch etwas mit den Ansprüchen zu tun, die man an sein Kind stellt. Wölkchen darf noch viel. Auch sie bekommt inzwischen öfter Neins von mir zu hören, aber oft ertappe ich mich dabei, wie ich Wirbelwind erkläre: „Wölkchen ist noch kleiner und versteht das noch nicht. Aber Du bist schon groß genug, um es zu verstehen.“ Ich erwarte von meinem Kind, dass es sich benimmt, ich erwarte, dass es keinen Blödsinn anstellt. Tut es das dennoch, bin ich entsprechend enttäuscht, meinen Ansprüchen sei dank.
Irgendwann hat man alles am Kind bereits einmal gesehen und es wird zur Gewohnheit. Irgendwann ist es eben nicht mehr lustig, wenn man sein Kind zum drölfzigsten Mal zusieht, wie es die Schublade leerräumt. Ja auch bei Wölkchen treten diese Momente inzwischen ein, aber es sind eben noch so viele neue Dinge, die sie lernt und mit denen sie mich zum Staunen bringen kann.
Möglichkeiten, mit denen mich Wirbelwind überraschen kann, werden immer seltener und sind eher besondere Ereignisse, als alltägliche Dinge: Ich hatte Pipi in den Augen, als ich sah, wie sie das erste Mal Fahrrad fuhr. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich sah wie sie ihren Namen schrieb. Ich wollte es nicht glauben, als ich hörte, dass sie geschwommen ist (mit Schwimmflügeln). Vielleicht jubele ich nochmal, wenn die Schwimmflügel wegbleiben und sie auf Einrad umsteigt. Aber wie soll sie sich noch steigern? Ihren Namen schreibt sie bereits. Werde ich auch euphorisch jubeln, wenn sie aus der Schule kommt und den ersten Satz schreiben kann?

Wann hört das Staunen auf?

>Wann hört es also auf? Wann hört es auf, dass ich mein Kind stundenlang anstarren und es in seinem Tun beobachten könnte? Wann ist das bei Wirbelwind passiert? Und wann wird es mich bei Wölkchen treffen? Wann nehme ich auch sie nur noch als Selbstverständlichkeit hin und verliere mein Staunen? Rückblickend denke ich, dass Wirbelwind so drei Jahre alt gewesen war, als ich aufhörte sie als kleines, niedliches Kind zu sehen und zunehmend mehr Anforderungen an sie stellte. Sie war nun die große Schwester, musste mir helfen und sich benehmen. Plötzlich war da etwas, das so viel niedlicher war, als sie. Da war es schwer zu konkurrieren. Und es war die Zeit, in der sie anfing zu schauspielern und zu übertreiben. Eine Eigenart, die mir zusätzlich Augenrollen bescherte. Mein Wirbelwind wirkte plötzlich so groß. Ja, das war wohl dieser Knackpunkt. Und ich habe es nicht gemerkt.

Alles auf Anfang?

Doch zum Schluss stellt sich mir eine ganz wesentliche Frage, die wohl noch viel wichtiger ist, als jene danach, wann das Staunen aufhörte: Kann ich es bei Wölkchen erhalten und bei Wirbelwind sogar wieder zurückbekommen? Kann man sich die Faszination an seinen Kindern bewahren? 
Vielleicht sollte ich mir jeden Abend in Erinnerung rufen, was mir an meinen Kindern heute besonders gefallen hat. Und vielleicht sollte ich im Alltag, auch und gerade bei Wirbelwind wieder viel mehr darauf schauen, was sie macht und ihr Tun viel stärker in meinen Blickpunkt rücken, und zwar in positiver Hinsicht. Ich sollte nicht so sehr auf ihre Fehler schauen, sondern ihre gut gemeinten Taten (auch wenn sie nach hinten losgegangen sind) würdigen.Ich sollte anfangen zu sehen.

Eure Wiebke

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