Alles auf Anfang? – Kita- und Schulöffnung in Sachsen

Wut - Schulöffnung in Sachsen

Viel zu tun

Es ist Freitagabend 20 Uhr. Ich sitze seit 3 1/2 Stunden in diesem kleinen Raum einer ersten Klasse und bespreche mit der schwangeren Klassenleiterin und einer Kollegin das weitere Vorgehen. Seit dem Vortag weiß ich, dass ich mit der Kollegin zusammen diese Klasse übernehmen werde. Sie selbst noch im Referendariat. Ich als Seiteneinsteiger sogar noch im Studium. Wir werden uns reinteilen, weil wir beide an zwei Tagen in der Woche nicht in der Schule sind. Es gibt viel zu besprechen. Was gibt es bezüglich der Kinder zu beachten? Welche Rituale sollen fortgeführt werden? Wo finde ich die Materialien. Wie weit sind die Kinder (theoretisch) im Stoff? Wie sollen die Kinder die nächsten Tage „abgeholt“ werden? Welche neuen Inhalte gilt es zu vermitteln? …

3 1/2 Stunden. Mir brummt der Schädel.

Wut. So viel Wut.

In mir ist immer noch diese Wut. War es vor einer Woche noch Fassungslosigkeit angesichts des beschlossenen Vorgehens seitens des sächsischen Kultusministeriums, werde ich nun zunehmend mit der Realität konfrontiert und merke, wie diese Vorgaben in der Praxis auf viele, viele Barrieren stoßen.

Hier nochmal der Beschluss kurz zusammengefasst: Ab morgen werden Grundschule und Kindergarten wieder für alle Kinder geöffnet. Mit der Begründung, dass Hygiene- und Abstandsregelungen für Kinder in dieser Altersgruppe nicht umsetzbar sind, wird hier das Konzept der geschlossenen Gruppe verfolgt. Das heißt die Kinder dürfen untereinander in der Klasse bzw. in der Kita-Gruppe so viel Keime, Bakterien und Viren austauschen, wie sie lustig sind. Wichtig ist, dass diese die Gruppe nicht verlassen. Das soll gesichert werden, indem die Kinder bitte auch außerhalb von Schule und Kita nur mit Kindern aus dieser Gruppe spielen und alle Familienangehörigen weiterhin so sorgsam alle Schutzmaßnahmen verfolgen.

Puh. Diese Vorgehensweise ist auf so vielen Ebenen katastrophal. Ich versuche es einmal zusammenzufassen.

Was an der Öffnung so problematisch ist…

hygienische Ebene

Kinder bleiben nicht in ihrer Gruppe. Mehr muss man dazu fast nicht mehr sagen. Ich werde es aber noch erläutern: Wir haben Grundschulkinder, die Geschwister haben. Diese Geschwister gehen in eine andere Grundschulklasse oder Kita-Gruppe. Auch sie haben also direkten Kontakt zu ca. 15 bis 27 weiteren Kindern, je nach Größe der Gruppe. Und dann haben wir da noch die LehrerInnen, die ebenfalls Familien haben, im besten Fall Kinder in genau diesem Alter. Dann wird es nämlich wie bei uns: Wir arbeiten in drei „geschlossenen Gruppen“, die sich dann zu Hause treffen: Ein Grundschulkind, ein Kita-Kind und eine Grundschullehrerin. Ich trage dann die Viren von meinen Kindern in meine Klasse und die Kinder verteilen auch alles schön weiter. Und wir werden nicht die einzigen Familien sein, die Geschwister und Eltern in Lehrer- und Erzieherberufen haben. Im schlimmsten Fall kommt hier ein Schneeballsystem ins Rollen, bei welchem die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar sein werden. Und das muss den Verantwortlichen doch bewusst sein, wenn sie solche Entscheidungen treffen! Anzunehmen, dass geschlossene Gruppen möglich sind, ist fernab jeder Realität!

Ach ja: wir Eltern sollen ja täglich bescheinigen, dass unser Kind keine Symptome hat (und deren Familienmitglieder). So soll gesichert sein, dass nur gesunde Kinder in die Gebäude kommen. Verdammt, das treibt mir die Tränen vor Wut in die Augen. Es ist doch nachgewiesen, dass Menschen (und besonders Kinder) oftmals gar keine Symptome zeigen bzw. bereits ansteckend sind, bevor das Virus sichtbar wird. Wie soll es uns schützen, wenn da so eine blöde Unterschrift auf dem Zettel steht?! Das wiegt uns in einer Scheinsicherheit, die es nicht gibt!

Und dann sind da verzweifelten Eltern, die zusammen mit Risikopersonen leben und nun angst haben, dass die Kinder aus Schule und Kita etwas einschleppen. Immerhin ruderte das Ministerium kurzfristig ein wenig zurück. Bis zum 5. Juli darf die Schulpflicht auch noch von zu Hause erfüllt werden. Damit kommt man den zahlreichen Protesten entgegen, die unter Eltern und Lehrern nach der Verkündung aufkeimten.

Organisatorische Ebene

Nun gut. Oder auch nicht. Auf jeden Fall wurde es nun so beschlossen und Schule und Kita müssen sich darauf einstellen. Also wird organisiert. Neue Dienstberatungen werden anberaumt und das Besetzungskarussell wird gedreht. Das Prinzip der geschlossenen Gruppen stellt alle unter große Herausforderungen.

In der Kita müssen zunächst die Betreuungsbedarfe der Eltern erfragt und schließlich die Gruppen neu zusammengestellt werden. Denn Schichtsysteme gehen nicht mehr. Die ErzieherInnen dürfen ja nicht mehr wechseln. Für die Kinder, die nach acht Wochen das erste Mal die Kita wieder betreten bedeutet das im schlimmsten Fall, dass sie in einer Gruppe mit unbekannten Kindern und einer unbekannten Erzieherin / einem unbekanntem Erzieher sind. Kinder, egal wie alt, müssen in der Eingangszone verabschiedet werden. Das mag bei Vorschulkindern okay sein, bei Kleinstkindern hingegen wird es wohl zu vielen Tränen kommen, nach zwei Monaten Abstinenz und völlig neuen „Routinen“.

Schauen wir auf die Schule. Stundenpläne müssen neu geschrieben werden, Pausenzeiten neu geregelt. Zugänge zum Gebäude für Kinder der verschiedenen Klassen zeitlich gestaffelt festgelegt werden, damit diese sich auf den Gängen nicht begegnen. Die Kinder werden sich nun in dem Klassenraum umziehen. Bis zu 25 Kinder müssen in einem Raum ihren Krempel unterbringen, der dafür nicht ausgelegt ist. Es wird das reinste Chaos. Die Schulleitung erstellt zum x-ten Mal in kürzester Zeit neue Stundenpläne. Sie arbeitet am Limit, genau wie die Lehrkräfte in den nächsten Wochen.

pädagogische Ebene

Auch LehrerInnen sollen nicht mehr zwischen den Klassen wechseln, logischerweise. Das Problem ist, dass in unserer Schule viele KlassenlehrerInnen Deutsch und Sachunterricht geben und Mathe von einer anderen Person gehalten wird. Nun müssen alle KlassenlehrerInnen, die teilweise seit über 20 Jahren kein Mathe gegeben haben, dies in ihrer Klasse unterrichten. Es ist nicht nur eine Herausforderung, es ist eine Zumutung für beide Seiten. Ansprüche an hochwertige pädagogische Arbeit und gut geplanten und kompetent durchgeführten Unterricht sind schwer zu halten (und das sage ich als Seiteneinsteigerin).

Und wenn es ganz krass kommt, dann müssen LehrerInnen den Unterricht von KollegInnen aus Risikogruppen übernehmen. So wie es bei mir der Fall ist.

Schluss

Sagen wir mal so. Bei den ganzen Punkten können wir doch froh sein, dass wir uns zumindest innerhalb der Klasse jetzt nicht mehr um die Einhaltung der Abstandsregelungen kümmern müssen. Wir können Gruppen- und Partnerarbeit machen. Wir können Sitzkreise veranstalten… Zumindest ist es auf diese Weise eventuell möglich, in den Kindern nicht die ganze Zeit Ängste zu schüren, weil Paul mal wieder der Emily 20 Zentimeter zu nahegekommen ist oder Henry versehentlich den Stift für Ina aufgehoben hat.

Dafür bleibt in den Köpfen der Eltern und LehrerInnen die Angst. Beim Betreten des Klassenraumes. Beim Erklären von Angesicht zu Angesicht. Beim Frühstücken. Beim Türaufhalten. Beim Trösten. Beim Verabschieden. Beim Nachhausekommen. Es wird ständig in den Köpfen sein, diese unterschwellige Angst, was passieren wird. Was für Auswirkungen das hat, was wir hier veranstalten. Ob alles gut geht. Oder auch nicht. Und vielleicht geht alles wieder auf Anfang. Die Pandemie, nicht die Normalität. Letztere ist längst Vergangenheit.

Wir werden es sehen. Mehr können wir gerade nicht tun. Und das macht es so furchtbar.

Eure Wiebke

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Alles auf Anfang? Öffnung von Schule und Kita in Sachsen

7 Comments

  1. Claudia
    Antworten
    17 Mai 2020 at 12:02 pm

    Finde ich besser als das Abstandskonzept hier in NRW. Das wird auch nicht klappen, also sollten auch hier alle gehen. Ist meine Meinung. Ich glaube, in der Schule wird es nicht zu mehr Problemen kommen als über Spielplatz etc. Wenn die Zahlen explodieren, muss man wieder runterfahren…. Ach, schwierig alles…

  2. 17 Mai 2020 at 11:36 pm

    Danke für diesen ausführlichen und anschaulichen Bericht. Was bleibt ist Fassungslosigkeit.

  3. Steffi
    Antworten
    24 Mai 2020 at 5:24 pm

    Hut ab, wie ihr das gestemmt bekommt, vor allem auch in so kurzer Zeit. Der Einsatz lohnt sich: Das Nachbarskind geht – wie es scheint – auf „deine“ Schule und sie ist so so glücklich, wieder bei euch sein zu dürfen. Mal schauen, was nun die Zahlen in den kommenden Tagen/Wochen sagen werden. Habe gerade erst deinen Blog entdeckt, als ich mal nachschauen wollte, ob Kinder im Allgemeinen mit 21 Monaten so unzufrieden mit sich und der Welt sind. Beim Großen ist es schon zu lang her. Schön, dadurch eine lokale Bloggerin gefunden zu haben 🙂

    • 26 Mai 2020 at 10:03 am

      Das ist ja witzig. Ich freue mich immer über neue LeserInnen. 😉 Ich bin auch gespannt, was die Zahlen bringen. LG

  4. 27 Mai 2020 at 11:23 am

    Wow. Alter-Verwalter sind das anstrengende Neuigkeiten aus der Praxis. Ich kann mir das vorstellen, dass es echt anstrengend sein muss. Vor allem dadurch, weil sich stetig etwas verändert. Jede Woche gibt es neue Regeln, Verordnungen und co…halte durch.

  5. 10 Juni 2020 at 6:06 pm

    Riesen großen Respekt. Diesen zolle ich allen Menschen, die sich mit diesen schwierigen Themen auseinandersetzen mussten. Ich bedanke mich herzlich für die Kraft von dir und deinen Kolleginnen. Das ist hier einige Ungereimtheiten gibt, war ja auch in den Medien häufig vertreten. Doch das so aus erster Hand zu erfahren ist noch einmal ein ganz anderes Erlebnis. Ich bedanke mich herzlich dafür bei dir!

  6. 4 Juli 2020 at 4:21 pm

    Hallo, danke für diesen Bericht einer Expertin. Mich würde total interessieren, wie die Geschichte weiter geht. Wie hat alles geklappt? Gab es Probleme? Fühlst du dich gut mit der aktuellen Lage?
    Vielleicht hast du in nächster Zeit mal wieder Luft für einen neuen Einblick in den Lehreralltag. Ich würde mich auf jeden Fall freuen.

    Grüße
    Xenia

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