Jesper Juul for Dummies – der richtige Umgang mit dem Kind

Immer wieder keimen (nicht nur) unter den Elternbloggern Diskussionen auf, wie man denn mit Kinder umgehen sollte, welche Ratgeber man hierzu am Besten zu Gemüte führt und überhaupt, wem der zahlreichen „Experten“ man denn nun trauen kann. Und immer wieder taucht eine Person auf, die über allen zu stehen scheint: „Jesper Juul“. Das hatte mich neugierig gemacht und ich hatte mir vergangenes Jahr sein Buch „Dein kompetentes Kind“* gekauft und gelesen. Das macht mich nicht gleich zur Expertin, aber ich möchte Euch hier in diesem Beitrag einmal die Kernpunkte wiedergeben, die ich für mich besonders bedeutsam fand. Vom Laien für Laien, quasi. Dazwischen gibt es einen kleinen Einblick in unsere „Erziehung“ und was Juul wohl dazu sagen würde.

Zum Grundverständnis

Kinder sind kompetent und wollen kooperieren

Kinder sind kompetent. „Kompetent“ bezeichnet Juul Kinder deshalb, weil wir als Erwachsene viel von ihnen lernen können. Über ihre Reaktionen können wir unser eigenes Handeln reflektieren, destruktive Handlungsmuster erkennen und in der Folge vermeiden. Dies kann nur auf der Basis eines würdevollen Dialogs geschehen (vgl. S. 15). In diesem Zusammenhang irgendwelche Methoden anwenden zu wollen, ist daher aus Sicht von Jesper Juul absurd (vgl. S. 24).
Oft denken Erwachsene, sie müssten ihren Kindern beibringen, wie man kooperiert, doch Jesper Juul sagt, Kinder wollen kooperieren. Wir Erwachsene sind hingegen in der Regel diejenigen, die diese Kooperationsbereitschaft abtrainieren.
„Wenn Kinder aufhören zu kooperieren, dann wurde entweder ihre Kooperationsbereitschaft überstrapaziert oder ihre Integrität verletzt. Es geschieht niemals, weil sie nicht kooperieren wollen.“ (S. 46)
Das bedeutet:
„Kinder brauchen keine Erwachsenen, die ihnen beibringen, wie man sich anpasst oder kooperiert. Sie haben hingegen einen dringenden Bedarf an Erwachsenen, die ihnen zeigen, wie man im Zusammenspiel mit anderen seine Integrität wahrt.“ (S. 48)
Kooperation bedeutet in diesem Zusammenhang in erster Linie, dass sie die Eltern (und andere Personen) nachahmen oder das genaue Gegenteil tun. Das hat folgende Grundregeln zur Folge (vgl. S. 58):
  • Kinder, die kritisiert werden, werden kritisch oder selbstkritisch
  • Kinder, die mit Gewalt aufwachsen,  werden gewalttätig oder selbstdestruktiv
  • Kinder, deren Eltern sich niemals persönlich ausdrücken, werden schweigsam oder redselig

Das heißt bei destruktivem Verhalten der Eltern kooperieren Kinder entweder, indem sie das Verhalten der Eltern imitieren, oder indem sie das genaue Gegenteil tun. In jedem Fall wird die Integrität des Kindes angegriffen.

 

Die Integrität

Integrität umfasst die gesamte physische und psychische Existenz. Sie bezieht sich des Weiteren auf unsere Identität, unsere persönlichen Bedürfnisse und unsere Grenzen (vgl. S. 59).
Zur physischen Integrität zählt auch das Recht der Kinder, nur dann Nahrung aufnehmen zu müssen, wenn sie auch tatsächlich das Bedürfnis danach haben (vgl. S. 79). Zwingt man sie beispielsweise, den Teller aufzuessen, verletzt man ihre Integrität.
Verflixtes Alltagsbeispiel zur verletzten physischen Integrität: Hier lässt sich wunderbar die Diskussion zum selbstbestimmten Schlafen anführen. Oder auch die Wahl des Essens. Wenn der Papa Wirbelwind anmault, sie möge ihren Teller aufessen, dann (hier sind wir wieder bei dem Punkt „einig sein“), fahre ich dazwischen und füge hinzu, dass sie ihn stehen lassen kann, wenn sie satt ist. Auch bei Wölkchen ignoriert Papa gerne die physische Integrität. Wenn er sie auf dem Arm hat und sie sich abdrückt, dann ist das ihre Art ihm zu sagen, dass sie gerne runter möchte. Er fühlt sich angegriffen, weil sie nicht bei ihm sein möchte und meckert herum, dass sie sich doch nicht so abstoßen solle, damit sie nicht herunterfalle. Wölkchen beginnt an zu meckern und fühlt sich unwohl. Die physische Integrität ist verletzt.

Konflikt von Integrität und Kooperation

Was passiert nun, wenn man die Integrität verletzt, die Kinder aber kooperieren wollen? Im Konflikt von Integrität und Kooperation wählen Kinder meist die Kooperation und vernachlässigen ihre eigenen Bedürfnisse. Das heißt Kinder neigen dazu ihre Integrität zu Gunsten einer Kooperation mit ihren Eltern aufzugeben, um Konflikte zu vermeiden.
„Wenn Eltern die Integrität ihrer Kinder regelmäßig auf dieselbe Art und Weise verletzen (…), dann kommen Kinder nicht zu dem Schluss, dass ihre Eltern sich falsch verhalten. Sie gelangen stattdessen zu der Überzeugung, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimmt! Dadurch verlieren sie ihr Selbstgefühl (…).“ (S. 60)
Folge der Konflikte sind:
  • Psychosomatische Symptome, wie Über- und Untergewicht, Muskel- und Kopfschmerzen, Bauchschmerzen als verschlüsselte Botschaften der Kinder an die Eltern und
  • (selbst-)destruktives Verhalten.

Wenn Kinder sich destruktiv oder asozial verhalten, geschieht dies nicht ohne Grund. In der Regel haben Erwachsene in ihrem Umfeld sich ebenfalls so verhalten und damit ihre Integrität gekränkt. Dadurch verlieren sie an Selbstgefühl (vgl. S. 83, 89). Selbstzerstörerisches Verhalten wie Alkohol- und Drogenmissbrauch bis hin zu Selbstmordversuchen können die Folge sein.

Was uns Erwachsene hemmt

Was uns Erwachsene im Umgang mit unseren Kindern oft hemmt, ist die Vorstellung, dass liebloses Verhalten konsequentes Verhalten ist (und somit erwünscht) und im Gegenzug liebevolles Verhalten als unverantwortlich zu betrachten ist (vgl. S. 21). Das kann bewirken, dass Eltern, die liebevoll auf ihre Kinder eingehen als inkonsequent bezeichnet werden bzw. sie deshalb nicht liebevoll auf ihre Kinder eingehen, weil es gesellschaftlich nicht anerkannt ist. Nach Außen soll der Anschein eines „guten Elternhauses“ gewahrt bleiben (vgl. S. 33).
Verflixtes Alltagsbeispiel zu gesellschaftlich anerkanntem Verhalten: In meiner Stillzeit hörte ich Freunde sagen, ich solle versuchen, einen Vier- oder wenigstens Drei-Stunden-Rhythmus zu forcieren. Das wäre gesellschaftlich anerkannt gewesen. Stillen nach Bedarf hingegen und ein häufiges Anlegen war nicht gerne gesehen. „Stillst Du schon wieder“, hieß es dann oft. Ich entschied mich, wie es Juul nennen würde, für das liebevolle und scheinbar inkonsequente Verhalten.
„Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten.“ (S. 24)
Stattdessen denken viele Erwachsene, sie müssten Macht auf ihr Kind ausüben. Das impliziert auch im Zuge eines konsequenten Verhaltens das Kind zu bestrafen mit physischer Gewalt oder mit Einschränkung der persönlichen Freiheit (vgl. S. 30). Doch dieses Vorgehen zerstört das Verhältnis zum Kind, weil Eltern ihren Kindern die Schuld geben. Das schädigt das Vertrauen der Kinder. Und sie lernen nie ihren eigenen Bedürfnissen zu folgen.
Machtkämpfe sollten darüber hinaus deshalb vermieden werden, weil sie Gewinner und Verlierer produzieren. Darunter leidet die Gemeinschaft (vgl. S. 38).
Trotzende Kinder sind nicht selten deshalb trotzig, weil Eltern eben diese Macht auf ihre Kinder ausüben. Das Trotzalter ist die Zeit, in der sich die Kinder allmählich aus der Abhängigkeit ihrer Eltern befreien wollen. Sie sind inzwischen kognitiv und motorisch so weit entwickelt, dass sie vieles selber machen wollen und auch können. Trotzig werden sie, wenn wir Eltern uns dieser neuen Selbstständigkeit versperren und ihnen diese nicht zugestehen, wenn wir als Eltern Macht ausüben wollen (vgl. S. 25).
Verflixtes Alltagsbeispiel zur Machtausübung: Wirbelwind ist mal wieder im Spielrausch den Hang neben dem Spielplatz hinuntergeflitzt, ohne uns Bescheid zu sagen. Der Papa geht hinterher und „bestraft“ sie dafür. „Ich habe Dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht da runterrennen sollst, ohne uns Bescheid zu sagen. So, jetzt ist es für dich vorbei, wir gehen nach Hause.“ Juul würde an dieser Stelle heftig mit dem Kopfe schütteln. Denn der Papa spielt in dieser Situation seine Macht aus. Wirbelwind hingegen versteht die Welt nicht mehr. Denn sie hat den Papa ja nicht ärgern wollen. Sie hat einfach nur schön mit ihren Freunden gespielt, wie wir es doch immer von ihr wollen.
Ähnlich ist es auch, wenn mich Wirbelwind zum drölfzigsten Mal fragt, ob sie Tablet schauen kann und ich im Zuge meiner Genervtheit meine Macht ausspiele und ihr für die Woche Tablet-Verbot ausspreche. Dann habe ich zwar meine Ruhe, aber der Lerneffekt ist minimal.
Man hört es so oft: Kindern müssen Grenzen gesetzt werden. Aber Grenzen setzen dient in erster Linie dem Machterhalt. Wichtiger ist es, dass die Eltern sich selbst Grenzen setzen können, die sie den Kindern kommunizieren (vgl. S. 28). Nur so lernen Kinder ihre persönlichen Grenzen zum Ausdruck zu bringen und Bedürfnisse zu artikulieren.
Verflixtes Alltagsbeispiel zum Grenzensetzen: Es ist abends, das Kind hat bereits Abendbrot gegessen und soll nun Zähneputzen. Das Kind aber möchte gerne noch etwas Naschen. Ich sage dann „Abends wird nichts mehr genascht.“ Korrekterweise müsste man jedoch formulieren: „Ich möchte nicht, dass Du abends noch etwas naschst.“ Klingt auf den ersten Blick sehr ähnlich, jedoch wird nur im zweiten Wortlaut deutlich, dass es mein Wunsch ist abends nichts Süßes mehr zu essen. Nur so mache ich deutlich, das das Nicht-mehr-Naschen meine persönliche Grenze darstellt und keine abstrakte Regel ist.
Auch denken Eltern, sie müssen sich in ihrer Erziehung immer einig sein, um das Kind optimal erziehen zu können.
„Für die gesunde Entwicklung der Kinder spielt es indes keine Rolle, ob die Eltern sich in der Kindererziehung einig sind. Im Prinzip müssen sie sich nur darin einig sein, dass sie Uneinigkeit tolerieren. Erst wenn sie ihre Verschiedenheit als verkehrt empfinden, verunsichern sie ihre Kinder.“ (S. 29)
Verflixtes Alltagsbeispiel: Mein Mann und ich sind uns oft uneinig. Dabei begehen wir den Fehler, unsere unterschiedlichen Ansichten vor den Augen der Kinder zu diskutieren. Kind verunsichern können wir.
Ein weiterer häufiger Fehler ist jener, den Kindern die Schuld für Konflikte in die Schuhe zu schieben und sie zu bestrafen für etwas, dessen sie nicht schuldig sind (vgl. S. 31f). Man sollte immer im Hinterkopf behalten, dass Kinder für die Qualität des Zusammenspiels keine Verantwortung tragen.
 
„Man kann Kindern bestimmte Aufgaben und Verantwortungsbereiche zuweisen, die Verantwortung für das Wohlergehen der Familie tragen jedoch allein die Eltern“ (S. 36)

Verflixtes Alltagsbeispiel: Ja, auch das gelingt uns gut. In einem extra-Beitrag hatte ich darüber bereits geschrieben. Da habe ich Wirbelwind die Schuld daran gegeben, dass Wölkchen nicht wieder in den Schlaf fand. Böse Mama.

Dies ist unerlässlich für unsere Kinder

Im Umgang mit unseren Kindern sollten wir versuchen, elterliche Stolperfallen im Sinne von unangemessener Machtausübung, Schuldzuweisungen, gesellschaftlichen Zwängen oder anderen Hemmfaktoren zu vermeiden. Sie schwächen die Integrität und das Selbstwertgefühl unserer Kinder und sind doch gleichzeitig ein so wichtiger Garant dafür, dass sie nicht die Flucht in aggressivem oder selbstzerstörerischem Verhalten suchen.Was genau beschreibt nun dieses Selbstgefühl und wie wird es aufgebaut? Wie kann unseren Kindern auf Augenhöhe begegnet werden?

 

Selbstgefühl und Selbstvertrauen aufbauen

Selbstgefühl umfasst unser Wissen und Erleben darüber, wer wir sind, wie gut wir uns selbst kennen. Es beschreibt, wie sehr wir in uns selbst ruhen und uns wohlfühlen. Ein geringes Selbstgefühl zeigt sich in Unsicherheit, Selbstkritik und Schuld.
Selbstvertrauen ist hingegen eher eine erworbene Qualität und handelt von unseren Fähigkeiten bestimmte Dinge zu meistern (vgl. S. 98f).
Das Selbstgefühl wird gesteigert, wenn wir von wichtigen Personen um uns herum beachtet werden bzw. von ihnen wertgeschätzt werden, ohne eine besondere Leistung zu vollbringen.
Gegenüber Kindern bedeutet das, dass auch sie im Alltag von ihren Eltern „gesehen“ werden wollen. Ein einfaches Lächeln, Kopfnicken oder Hallo genügt hierbei, ihre Leistung muss nicht betont werden (z.B. „Oh toll machst du das!“). Auch ein „Pass auf, dass du dir nicht weh tust“ steigert nicht das Selbstgefühl, denn das eigene Erlebnis des Kindes wird in den Hintergrund gerückt und die Gefühle des Elter betont. Das Kind lernt, dass man nicht in seine Fähigkeiten vertraut (vgl. S. 104f).

Verflixtes Alltagsbeispiel: Der Papa ist so ein Kandidat, der aus Übervorsicht Wirbelwind ständig ein „Achtung, Du fällst“ oder „Pass auf!“ hinterherruft. Dass Wirbelwind heute stellenweise ein ängstliches Kind ist, ist eventuell auch darauf zurückzuführen.
Dafür musste ich erst lernen, bei jedem „Mama, schau mal“ nicht sofort man „schön“ oder „toll“ zu antworten, sondern einfach zu hinzusehen und zu lächeln. Und wenn Wirbelwind tatsächlich etwas ganz Fantastisches macht, dann lobe ich sie weiterhin. Als sie beispielsweise das erste Mal Fahrrad gefahren ist, oder die Kletterstange erklommen hatte, blubberte es nur so aus meinem Mund heraus.

Gleichwürdigkeit herstellen

Gleichwürdigkeit beschreibt die Tatsache, inwieweit Menschen ihre Handlungen und ihre Verschiedenheit anerkennen oder im Gegenzug ihnen Rollen aufgezwungen werden. Gleichwürdigkeit ist der Garant zur Reduzierung psychologischer Konflikte.
Jede Person fällt es unterschiedlich schwer oder leicht eine gleichwürdige Beziehung zum Kind aufzubauen, abhängig davon, wie sie selbst eine gleichwürdige Behandlung erfahren durfte, oder eben nicht.

Mittels eines Dialogs ist es möglich, Wünsche und Bedürfnisse von Eltern UND Kindern ernst zu nehmen und so eine gleichwürdige Beziehung aufzubauen.

Verflixtes Alltagsbeispiel: Es gibt Situationen, da kann ich nicht auf die Bedürfnisse von Wirbelwind eingehen. Dann steht sie da und schmollt. Wenn ich selbst trotzig reagiere und mich darüber aufrege, dass sie sich darüber aufregt, dann erreichen wir maximal, dass wir beide schlechte Laune haben. Wenn ich einen guten Tag habe, dann beuge ich mich zu ihr herunter, schaue ihr von Angesicht und Angesicht und erkläre Ihr, warum ich jetzt dies und das machen muss und eben nicht auf ihre Bedürfnisse (zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt) eingehen kann. In der Regel versteht sie das und fühlt sich gleichzeitig ernst genommen.

Damit möchte ich meine Ausführungen schließen. Ein paar Kapitel habe ich heute außen vor gelassen, nämlich das von Tenagerfamilien und der Elternsichtweise. Wen das interessiert, der sollte dann wohl doch einmal zum Buche greifen. 😉

In dem Sinne wünsche ich Euch ein fröhliches Erziehen … äh Beziehung aufbauen mit Euren Kindern!

Eure Wiebke

*Ich beziehe mich hier auf die 10. Auflage aus dem Jahr 2013.

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