„Jetzt weiß ich wieder, wo wir hin möchten. Zum Arzt!“
Ich schlucke eine Träne hinunter, während Wirbelwind diesen Satz ausspricht. Wir sitzen im Auto und ich versuche es aus seiner plötzlich viel zu kleinen Parklücke hinauszubugsieren. „Das hast Du gerade eben schon gesagt“, höre ich mich sagen. Wirbelwind schaut betroffen drein. Wir sind etwa drei Minuten unterwegs, als ich Wirbelwind erneut von hinten sagen höre:
„Jetzt weiß ich wieder, wo wir hin möchten. Zum Arzt!“
Meine Hände zittern. Ich merke wie mein Herz schneller schlägt. Ich möchte einfach nur endlich in diesem Krankenhaus ankommen. Wir finden einen Parkplatz, steigen aus und nähern uns der Notaufnahme. Wirbelwind setzt erneut an: „Jetzt weiß ich wieder wo wir hin möchten.“ „Sag` es nicht.“, bitte ich meinen Wirbelwind.
Ich kann es nicht mehr hören. Ich kann nicht mehr hören, wie mein Kind immer und immer wieder den gleichen Satz sagt, weil sie vergessen hat, dass sie es bereits getan hat. Mir schießen Gedanken durch den Kopf, den keine Mutter, kein Vater jemals denken möchte. Was, wenn es so bleibt? Was, wenn ihr Gehirn durch den Sturz einen so massiven Schaden genommen hat, dass sie ab sofort in genau dieser kindlichen Entwicklung, in der sie gerade ist, stecken bleiben würde? Wenn sie nichts mehr dazulernen könnte? Kopfkino deluxe.
Ich schildere in der Notaufnahme, was passiert ist, und wir werden in die Kinderchirurgie weiter geleitet. Dort melden wir uns an, müssen aber noch einen kurzen Moment warten. Wirbelwind muss auf die Toilette. Auf dem Rückweg jammert sie, dass sie Kopfschmerzen habe. Wir setzen uns in den Wartebereich und ich lasse Wirbelwind etwas auf meinem Handy spielen. „Weißt Du, warum wir zum Arzt gehen?“, frage ich sie. „Wegen meinem Arm?“, antwortet sie zögernd.
Ein Sturz und was danach kam
Nein, wir sind nicht wegen ihrem Arm beim Arzt. Mittags war Wirbelwind hingefallen. Sie wollte nach dem Spielplatz ihre Hände waschen, flitzte ins Badezimmer und rutschte auf den glatten Fliesen aus. Da ihr linker Arm auf Grund eines Bruches stillgelegt ist (ich berichtete hier), konnte sie sich nicht abfangen. Sie knallte mit voller Wucht mit ihrem Hinterkopf auf die harten Fliesen.
Wir legten sie aufs Sofa, kühlten, beruhigten. Von Außen war nichts zu sehen. Keine offene Wunde, nicht einmal eine Beule. Aber der Sturz war heftig und Wirbelwind schien sehr mitgenommen. Ich zeigte ihr drei Finger, die sie richtig benennen konnte. Sie konnte ihren Namen sagen und ihre Anschrift. Sie schien fit. Wir beschlossen abzuwarten und schauten uns einen Film im Fernsehen an. Dann fragte Wirbelwind:
„Was machen wir nachher noch?“
Ich erklärte, dass wir nachher noch mit zwei Kindergartenfreundinnen verabredet sind. Wirbelwind schaute glücklich. Ein paar Minuten später stellte sie erneut die Frage:
„Was machen wir nachher noch?“
Ich war irritiert. Auf mein Nachfragen hin, ob sie nicht mehr weiß, dass sie diese Frage gerade eben schon gestellt hatte, schüttelte sie verwirrt den Kopf. „Du machst mir Angst!“, entfuhr es mir, was Wirbelwinds Blick noch hilfloser werden ließ. Ich fragte sie, ob sie noch wisse, was sie zum Mittag gegessen hatte. Das war eine Stunde her. Sie schaute zum Esstisch hinüber, auf dem noch die Kartoffeln standen und antwortete „Kartoffeln?“. Ich folgte ihrem Blick. „Und dazu?“ „Ich weiß es nicht mehr.“ Noch während mein Mann und ich überlegen, wer von uns beiden in die Notaufnahme fährt, stellt Wirbelwind erneut die Frage:
„Was machen wir nachher noch?“
Panik stieg in mir auf. Ich erkläre Wirbelwind, dass wir jetzt zum Arzt fahren werden. Ich schilderte, dass sie sich am Kopf verletzt hat und sich das der Arzt angucken muss. Ich schnappe mir meine Tasche, die Versichertenkarte, etwas zu Trinken und meinen Wirbelwind. Ich fragte sie, ob sie noch weiß, wo wir hin möchten. Sie verneinte. An der Wohnungstür blieb sie plötzlich stehen, dreht sich zu mir um und sagt mit freudigem Blick: „Jetzt weiß ich wieder, wo wir hin möchten. Zum Arzt!“
Der erste Tag im Krankenhaus
Die Ärztin öffnet die Tür und wir können in den Behandlungsraum. Es ist die selbe Ärztin, die Wirbelwinds Bruch vor 1 1/2 Wochen behandelt hatte. Sie feixte, dass Wirbelwind sie anscheinend unbedingt mal wieder sehen wollte. Wirbelwind erinnerte sich nicht. Ich beantwortete brav die Fragen der Ärztin und versuchte gegenüber Wirbelwind nicht mehr ganz so verzweifelt zu klingen. Sie habe eine Gehirnerschütterung, meinte sie. Dass damit auch Gedächtnisverlust einher geht, schien sie nicht sonderlich zu verwundern. Sie fragte Wirbelwind, wie das passiert sei. Wirbelwind konnte es nicht beantworten. Sie fragte weiter, ob sie Kopfschmerzen habe. Sie verneinte. Ich hakte ein und erklärte, dass sie gerade eben beim Laufen über Kopfschmerzen geklagt hatte. Sie hatte es schon wieder vergessen. Die Ärztin machte Notizen. Am Ende der Untersuchung meinte sie, das Wirbelwind drei Tage stationär beobachtet werden müsse. Ich bat den Mann für uns ein paar Sachen zusammen zu packen. Wir richteten uns, soweit das in einem Krankenzimmer ging, ein. Da Wirbelwind noch keine sechs Jahre alt ist, war es kein Problem ein Bett für eine Begleitperson zu erhalten, zum Glück.
Immer wieder erklärte ich, warum wir hier waren. Ich erzählte es ihr, als würde ich ihr es zum ersten Mal sagen. Ich wollte sie nicht verunsichern. Ich erklärte, dass sie gestürzt war und sie nun hier ist, weil sie sich nicht gut erinnern kann. Später fragte sich sie, ob sie wisse, warum sie hier sei. Sie erklärte: „Sie könne sich nicht erinnern“. Dass sie diese Worte wählte gab mir Hoffnung, dass meine Erklärung irgendwie bei ihr hängen geblieben war.
Der Mann kam mit Wölkchen und brachte unsere Sachen. Mit dabei war eine Brotbüchse, in der sich für Wirbelwind ein Brötchen mit Serranoschinken befand. Da ich unterschrieben hatte, meinem Kind nur die Krankenhauskost zu geben und nichts eigenes mitzubringen, bot ich ihr immer wieder heimlich einen Bissen an. Irgendwann fragte mich Wirbelwind, ob sie nochmal vom Brötchen abbeißen könne. Dass sie sich daran erinnern konnte, machte mir weiter Hoffnung.
Am Abend wurde es wuseliger. Wir bekamen ein Baby mit Mutter als Zimmernachbarn. Es war aus dem Bett gefallen und musste, wie Wirbelwind, stündlich überwacht werden. Nach dem Abendbrot schlief das Baby ohne zu Murren ein. Leider war die Nacht selber sehr unruhig, da das Baby öfter wach wurde und auch Wirbelwind stündlich kontrolliert wurde. Kurz vor Fünf entschied das Baby, dass die Nacht vorbei sei. Ich war gerädert.
Tag zwei – die Erinnerung kehrt zurück
Wirbelwind wurde ebenfalls vom Geschrei wach. Ich ließ sie zu mir auf die Liege krabbeln und wir kuschelten uns erneut ein. Wir dösten noch etwas weg. Als wir wieder wach wurden, fragte ich sie, ob sie noch wüsste, was sie zum Abendbrot gegessen hatte. „Brot mit Salami, Gurken und Joghurt“, antwortete sie zielsicher. Es war der wohl schönste Satz, den ich in meinem Leben gehört habe. Sie erinnerte sich. Alles wird gut. Ich kuschele mich noch fester an meinen Wirbelwind und denke nur: Was für ein tolles Kind!
Zwar zeigte Wirbelwind weiter Erinnerungslücken, konnte sich weiterhin nicht an den Sturz erinnern, aber es wurde besser. Den Tag verbrachten wir im Krankenhaus. Vormittags übernahm der Mann, ab Mittags wieder ich. Am Nachmittag holte ich Wölkchen aus dem Kindergarten und die beiden Schwestern spielten etwas zusammen, kuschelten sich zusammen ins Krankenbett, gaben sich Küsschen, blödelten herum. Es schien alles wie immer. So normal. So schön.
Nur wenn ich Wirbelwind über den Kopf streichle, jammert sie ab und an auf. Irgendwo scheint es weh zu tun, auch wenn man keine Beulen sieht. Den Arzt schien es nicht sonderlich zu interessieren. Viel lustiger fand es Wirbelwind, dass sie von ihm „altes Huhn“ genannt wurde, und fieberte der nächsten Visite freudig entgegen.
Später zog sich Wirbelwind ihre Hausschuhe an und kommentierte das Vorgehen mit: „Ich zieh` besser die Hausschuhe an, damit ich nicht wieder ausrutsche!“. Wieder ein Detail vom Vortag, an das sie sich nun erinnerte.
Tag 3 – Hier und Jetzt
Aktuell befinden wir uns in Tag drei. Wirbelwind ist noch im Krankenhaus und wird weiter beobachtet. Der Papa ist bei ihr. Sie macht einen sehr fitten Eindruck und kann morgen entlassen werden. Später werde ich Wirbelwind zusammen mit Wölkchen besuchen.
Update: Tag 4
Heute wurde Wirbelwind entlassen. Sie wirkt munter und möchte sich viel mehr bewegen, als sie darf. Sie braucht weiterhin Ruhe, darf zwei Wochen lang keinen Sport machen. Auch wenn sie wieder völlig hergestellt wirkt, zeigt sie weiterhin ab und an Erinnerungsschwierigkeiten. Ich hoffe sehr, dass sich das die nächsten Tage auch noch legen wird und dieser große Schreck mit einem „Happy End“ endet.
Hatten Eure Kinder auch bereits mit einer Gehirnerschütterung und/oder einem Gedächtnisverlust zu kämpfen?
Eure Wiebke
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Marlen
Alles alles Gute dem Wirbelwind und Kraft für euch Eltern!!! Drücke feste beide Daumen dass ihr das noch gut durchalten könnt – mit viel Liebe und Zusammenhalt!
Liebste Grüße Marlen
verflixteralltag
Vielen lieben Dank, Marlen!
Viola
Oh Gott, was für ein Albtraum! Ich hoffe deiner Kleinen geht es bald besser – und du erholst dich langsam von dem Schock.
Mit meinen vier Kindern war ich auch schon öfter Gast im Krankenhaus – und jedes mal dankbar, wenn ich wieder mit einem gesunden Kind nach Hause gehen konnte. Der Schreck sitzt immer ganz tief in Mamas Gliedern.
Alles Gute für euch !!!
verflixteralltag
Ja, es war wirklich ein Schock. Inzwischen geht es ihr gut. Aber als Eltern sein Kind so zu sehen, das wünscht man wirklich niemandem. :-/
Hanna
Hallo Wiebke,
Ich komme gerade mit meiner 6-jährigen aus dem KH nach einem ähnlichen Erlebnis. Es tut mir gut deinen Bericht zu lesen. Kaum zu beschreiben, wie man sich fühlt…diese Panik die in mir aufstieg, als meine Tochter im 3 Minuten-Takt im Rettungswagen mit leuchtenden Augen sagte, dies sei ja das erste Mal, dass sie in einem Krankenwagen fahre… ich habe auch immer so getan, als hörte ich es zum ersten Mal und versucht mich zu beruhigen. Auch bei uns alles gut. Aber das war echt unheimlich…LG, Hanna
Sophie
Auch wenn dein Beitrag schon ein paar Jahre alt ist, so tat er mir gestern Abend unheimlich gut. Nach einem Sturz von der Treppe erinnerte sich mein 6 jähriger weder an die Ostereiersuche am selben Tag, noch an den Sturz. Was uns ja noch irgendwie logisch erschien. Aber als er dann im 5 Minutentakt fragte, wo er sei, wurde uns doch etwas mulmig zumute. Auch während der Fahrt mit dem Krankenwagen und später im Krankenhaus musste ich immer wieder erklären, was passiert war. Sein Gehirn schien neue Informationen nicht mehr abzuspeichern. Ich war ganz schön am Ende. Heute morgen scheint alles wieder besser zu funktionieren, nur ist er noch sehr schläfrig. Ich bin optimistisch, dass das kleine Köpfchen das wieder hinbekommt. Danke nochmal fürs teilen deines Erlebnisses!