Der Letzte macht die Tür zu!

Der Letzte macht die Türe zu!

Ein Aha-Moment

Wir sind auf dem Rückweg vom Kindergarten. Ich habe zusammen mit Wirbelwind Wölkchen abgeholt. Nun fahren sie ausgelassen mit ihren Rollern vor mir her. Als Wirbelwind an Wölkchen vorbei fährt, bricht diese plötzlich zusammen und schluchzt.

Ich setze mich an eine Bushaltestelle und nehme sie auf den Schoß. Sie ist völlig aufgelöst und kaum zu beruhigen. Zwischen zwei Schluchzern jammert sie:

„Immer muss ich die Tür zumachen!“

Ich bin völlig perplex. Welche Tür? Wir sind auf der Straße und haben auch nicht vor nach Hause, sondern auf den Spielplatz zu fahren. Keine Tür weit und breit. Und dann dämmert es mir: Die Tür ist eine Metapher und steht für all die Situationen, in denen Wölkchen das Nachsehen hat, weil sie kleiner, langsamer und jünger ist. „Der Letzte macht die Tür zu“, ist ein Schlag ins Gesicht für die Kinder, die – weil sie eben noch kleiner und langsamer sind – immer als letztes an der Tür ankommen. So auch Wölkchen. Die Tür zu schließen bedeutet in ihren Augen, dass sie klein ist und es wieder nicht geschafft hat, mit Wirbelwind mitzuhalten, die die Treppenstufen nur so nach oben fliegt.

Diese Erkenntnis breitet sich langsam in mir aus, während ich die Tränen von Wölkchen trockne. Ich mache mir eine Notiz und werde nie wieder von Wölkchen verlangen, die Tür zu schließen, weil sie die Letzte war, die hindurchgegangen war.

Irgendwie schaffe ich es, Wölkchen aufzupeppeln, so dass wir unseren Weg zum Spielplatz fortsetzen können. Wirbelwind wartet an der nächsten Kreuzung auf uns. Ich schaue in ihr Gesicht und sehe Bestürzung und Fassungslosigkeit. Sie wollte ihre kleine Schwester nicht zum Weinen bringen, kann aber gleichzeitig nicht verstehen, was gerade passiert ist. Warum Wölkchen so heftig zu Weinen begonnen hat. Ich nehme das nächste Kind in den Arm und versichere, dass sie nichts falsch gemacht hat. Ich versuche Wölkchens Gedankengänge zu erklären und bin mir aber nicht sicher, ob Wirbelwind es versteht. Zumindest ist sie etwas beruhigt und wir schaffen es irgendwie doch noch auf den Spielplatz.

Wie die große Schwester

Immer wieder beobachte ich im Alltag, wie Wölkchen versucht mit ihrer großen Schwester mitzuhalten. Immer wieder erwische ich sie dabei, wie sie auf Zehenspitzen steht, um ein Stückchen größer zu sein. Wie sie Wirbelwind nachahmt, ihr nicht nur körperlich sondern auch intellektuell nah sein möchte. Noch ein Jahr Kindergarten, dann kann sie endlich auf die Schule ihrer großen Schwester gehen. Sie kann es kaum erwarten und freut sich bereits jetzt riesig darauf. Zur Überbrückung spielen die Zwei unentwegt „Schule“. Wirbelwind ist die Lehrerin und Wölkchen die Schülerin. Kein Wunder also, dass Wölkchen bereits einige Wörter schreiben und etwas rechnen kann. Sie strebt nach oben, schaut immer dort hin, wo sie noch nicht steht. Das liegt in ihrem Naturell, vielleicht auch bedingt durch die Position in der Familie als zweites Kind.

Grundsätzlich halte ich dieses Streben für sinnvoll. Wölkchen sichert sich ihren Platz in der Familie und zeigt ganz klar, wo sie sich sieht. Sie hat einen starken Willen, hatte sie schon immer. Sie weiß, was sie möchte. Und das ist der Platz an Wirbelwinds Seite. Dieses Streben kann jedoch schnell zu Frustration führen. Denn es liegen nun mal drei Jahre zwischen den beiden. Und zumindest aktuell bedeutet dies, dass Wirbelwind einen großen Vorsprung hat, kognitiv und motorisch.

„Wartet auf mich!“

Wirbelwind nimmt oft Rücksicht auf ihre Schwester, spielt mit ihr und bindet sie ein. Wie gesagt: oft. Aber es ist verständlich, dass das nicht immer möglich ist. Denn auch Wirbelwind hat eigene Wünsche und Bedürfnisse, fernab ihres „Jobs“ als große Schwester. Zur Kur beispielsweise suchte Wirbelwind sehr aktiv nach Freundinnen, mit denen sie dann ausgelassen spielte. Immer wieder war es Wölkchen, die verzweifelt ihrer Schwester hinterherrannte und „Wartet auf mich!“ rief. Ein Wettlauf gegen drei Jahre Altersunterschied.

Eines steht fest: ändern kann ich diesen Altersunterschied nicht. Aber ich kann beiden Seiten bewusst machen, welche Privilegien sie jeweils in ihrer Position als kleine und große Schwester haben, damit sie sich in ihrer Rolle wohler fühlen. Klar wird es immer wieder zu Streitereien und Unzufriedenheit kommen. Aber es wird die Aufgabe von uns allen sein, daraus das Beste zu machen. Und ich fange damit an, die Tür ab sofort selber zu schließen, auch wenn ich nicht die Letzte war.

Eure Wiebke

 

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Der Letzte macht die Tür zu - vom Streben der kleinen Schwester und ihren Grenzen

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