„Sie wäre eine wunderbare Erstklässlerin!“
Das ist ein Satz, den man sicherlich gerne hört, zumindest wenn das Kind kurz davor steht eingeschult zu werden. Ihn zu Beginn der zweiten Klasse von der Klassenlehrerin zu hören, macht hingegen eher nachdenklich.
Rückblick auf das erste Schuljahr
Zur Schuleingangsuntersuchung vor 1 1/2 Jahren tat sich Wirbelwind noch schwer mit dem Zählen. Obwohl wir das Zählen bis 20 viel übten, wollte es nicht so recht in ihrem Köpfchen bleiben. Bis 15 ging es, dann holperte es. Die Frau bei der Schuleingangsuntersuchung tat es ab. Es sei ja noch Zeit. Wir sollen weiter üben, Würfelspiele spielen usw. Nun gut.
Das erste Schuljahr startete und viel Organisatorisches polterte uns entgegen. Wir strauchelten, stolperten und richteten uns wieder auf. Irgendwann lief es einigermaßen. Waren eingespielt. Der Unterrichtsstoff der ersten Klasse war zu bewältigen. Noten gab es noch nicht. Das Lesen ging langsam aber gut voran. Die Zahlen in Mathematik wurden größer. Die ersten Rechenaufgaben wollten von Wirbelwind gelöst werden. Und hier fing es an. Während bei den Mitschülern die Erkenntnisse nur so purzelten, die Rechenaufgaben in Rekordgeschwindigkeit gelöst wurden, brauchte Wirbelwind den Einsatz ihrer zwei Hände und viel Zeit. Viel zu viel Zeit. Bei Tests brauchte sie doppelt so lang und hatte dennoch einige Fehler. Bankrutschen im Matheunterricht ein Graus. Es wollte einfach nicht „Klick“ machen. Der Groschen nicht fallen. Wenn es Noten auf die Tests gegeben hätte, lägen die in Mathematik zwischen 3 und 4.
*Schluck.
Dem Start in die zweite Klasse habe ich daher etwas mit Bauchschmerzen entgegen gesehen. Nun würde es Noten geben. Und die Aussicht war nicht sehr rosig, angesichts der bisherigen Erfahrungen.
Den Tiefpunkt erreichten wir, als Wirbelwind mit einem Lesetest nach Hause kam, bei dem sie gerade mal die Hälfte schaffte. Lesen. Das war bislang unser Anker. Wenn schon Mathe nicht klappte, dann doch zumindest einigermaßen das Lesen und Schreiben. Diesmal nicht.
Ursachensuche
Alles eine Frage der Zeit?
Es gibt einen klugen Mann, der bei Pädagogen und Entwicklungspsychologen gleichsam geachtet und geächtet wird: Piaget. Er stellte ein Entwicklungsmodell auf, das nach seiner Aussage alle Kinder in ihrer Entwicklung durchlaufen. Mit einem Alter von ca. 7 Jahren setzt bei ihm die dritte Stufe der konkret-operationalen Phase ein, in welcher es das Kind schafft, sich von seiner reinen Wahrnehmung zu lösen und Denkoperationen durchzuführen. Hierzu zählt auch das Zahlenverständnis und das Rechnen.
Nun habe ich nicht ohne Grund ein „ca.“ vor die Zahl 7 gesetzt. Denn bei Kindern kann der Eintritt in diese Phase variieren. Manche sind eben etwas pfiffiger und können bereits mit 6 rechnen, andere brauchen noch ein Jahr länger. Und manche wenige scheinen nie so richtig in dieser Stufe anzukommen. Unser Wirbelwind scheint zu der Kategorie zu gehören, die etwas länger braucht. Zudem kommt hinzu, dass Wirbelwind die Jüngste in ihrer Klasse ist. Sie war bei der Einschulung zarte 6 Jahre und zwei Monate alt, kratzte mit einem Geburtstag Ende Juni gerade noch so am Stichtag vorbei. Viele Klassenkameraden sind deutlich älter, manche über ein Jahr. Da sticht Wirbelwind nochmals besonders hervor. Vielleicht braucht sie einfach noch Zeit. Vielleicht.
Konzentration!
Ein zweiter Punkt ist Wirbelwinds schlechte Konzentrationsfähigkeit. Außer vor dem Fernseher fällt es ihr schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren, wenn um sie herum etwas passiert. Das muss nichts Weltbewegendes sein. Hier ein Rascheln, dort eine leise Bewegung, und ihre Augen sind überall, aber nicht auf dem Papier. Auch das kann sich mit dem Alter noch „verwachsen“. Auf die leichte Schulter nehmen sollte man es jedoch nicht. Ein Punkt, an dem wir dran bleiben werden. Zumindest könnte dieser Punkt das schlechte Abschneiden im Lesetest erklären. Sie war abgelenkt und nicht bei der Sache.
Die erste Mathe-Klassenarbeit
Im Hausaufgabenheft stand es klar und deutlich: am Mittwoch würden sie die erste Klassenarbeit in Mathematik schreiben. Am Wochenende übten wir fleißig. Manchmal lief es gut, manchmal weniger.
Mir kam eine Idee und ich schrieb der Klassenlehrerin eine Nachricht. Sie stimmte mir zu. Ich durfte Wirbelwind Lärmschutzkopfhörer mitgeben, die sie während der Arbeit tragen durfte. Es war ein Versuch.
Mittwoch. Wirbelwind kam nach Hause. Sie hatte die Kopfhörer getragen, zumindest einen Teil der Arbeit. Und sie meinte freudestrahlend, dass sie bis auf eine Aufgabe alles geschafft hätte. Ich war erfreut aber auch skeptisch. Schließlich wusste ich nicht, wie gut sie die Aufgaben gelöst hatte. „Und wie viel Aufgaben waren es insgesamt?“, fragte ich neugierig. „Sechs“, meinte sie. Und die sechste Aufgabe, die sie nicht geschafft hatte, waren drei Sachaufgaben. Meine Hoffnung sank. Dann hatte sie doch ganz schön viele Punkte liegen gelassen. Abwarten.
Donnerstag. Ich begrüßte Wirbelwind und fragte gleich, ob sie die Arbeit zurück bekommen hätte. Ja, hatten sie. Auf mein ungeduldiges „Uuuund?!!!“ antwortete sie euphorisch: „Eine 2-!!!“
Eine Zwei Minus!!!! Mein Wirbelwind hat in der ersten Mathearbeit eine Zwei Minus geschrieben! Ich konnte nicht anders: ich rannte auf sie zu und musste sie ganz fest drücken. Nicht nur ein Stein purzelte von meinem Herzen, und scheinbar auch von ihrem. In den ersten fünf Aufgaben hatte sie nur einen Fehler gemacht. Nur einen!
Es ist gut ausgegangen. Diesmal. Die Kopfhörer scheinen ihr tatsächlich bei der Konzentration zu helfen. Die Frage ist nur, ob das genügt, um zukünftig den Schulalltag zu managen. Wahrscheinlich nicht.
Nachklang
Freitag. Ich holte Wirbelwind von der Schule ab und traf die Klassenlehrerin. Sie strahlte mich an und betonte, wie sehr sie sich über die Note gefreut hatte. Heute im Unterricht hatten sie zum Schluss ein Dankeslied gesungen. Hier widmete sie Wirbelwind eine Strophe: Sie bedankte sich bei ihr, dass sie sich bei der Arbeit so sehr angestrengt hatte und dies mit einer Zwei belohnt wurde. Wirbelwind platzte vor Stolz. Ein toller Ansporn für die nächste Zeit.
Dann fügte sie noch hinzu, dass wohl auch das mangelnde Leseverständnis ein Grund dafür sei, dass sie die Sachaufgaben nicht geschafft hätte. Ein neuer Aspekt, den ich bislang nicht auf dem Schirm hatte.
Stille. Dann: „Sie wäre eine wunderbare Erstklässlerin.“ In ihrer Stimme schwingt Verständnis mit. Und Hoffnung. Hoffnung, dass sie es dennoch packt. Zumindest meine ich es so zu hören.
Habt Ihr ähnliche Erfahrungen gemacht? Wie habt Ihr Euch entschieden? Wie hat es sich entwickelt?
Eure Wiebke
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Claudia
Dann wartet mal ab und lasst sie evtl die 2. Klasse hinterher wiederholen. Wäre doch eine gute Möglichkeit. Besser am Anfang der Schullaufbahn, als immer hinterherhinken und später erst wiederholen.
Anne
Ohje, da hat der kleine Wirbelwind ein paar Probleme zu bewältigen. Und ihr gleich mit. Ich finde die Wortwahl der Lehrerin aber hart und hätte es wohl nicht so gut wie du weggesteckt.
Was ich aber an deiner Stelle nun tun würde:
1. Nach Möglichkeiten zur Förderung der Konzentrationsfähigkeit suchen. Vielleicht gibt es sowas wie mit dem Gedächtnistraining oder so ähnlich. Eben Maßnahmen, womit der Wirbelwind mal nicht auf das Entgegenkommen der Lehrerin und die Kopfhörer angewiesen ist. Denn leider wird nicht jeder Lehrer die Verwendung dieser Dinger durchgehen lassen.
2. Den Rücken stärken. Das machst du schon sehr gut und das solltest du unbedingt beibehalten. Lob wirkt eben viel besser als Kritik 😉
3. Üben, üben und üben. Mein Sohn ist ebenfalls in der zweiten Klasse und lesen gehört nicht zu seinen Stärken. Daher lesen wir nun jeden Abend in einem seiner Erstlesebücher. Möglichst 10-15 Minuten. Es ist mir egal, ob die Sätze schon flüssig und mit der richtigen Betonung gelesen werden. Vielmehr ist es mir wichtig, dass er die Sätze versteht. Denn damit sind die Sachaufgaben und Lernkontrollen in der Schule leichter zu bewältigen.
Vielleicht ist es bei euch in der Schule auch wie bei uns. In diesem Schuljahr werden bei uns die Kinder bezüglich Auffälligkeiten wegen Legasthenie getestet.
Ansonsten würde ich es einfach im Blick behalten und es im Zweifel wie schon von Claudia empfohlen handhaben. Jetzt am Anfang der Schulzeit noch mal zurück zu stufen ist weit besser als das Kind später scheitern sehen zu müssen.
Ich wünsche euch viel Kraft! Es wird schon noch werden. Bald rockt der Wirbelwind die Schule 😉
Und übrigens: Noten sind nicht alles 😉
verflixteralltag
Ja, die Legasthenie-Tests werden immer in der zweiten Klasse gemacht. Aber damit hat Wirbelwind keine Probleme. Leseverständnis üben wird jetzt auch unser Fokus sein (hatte ich bisher einfach nicht im Blick) und eben Mathe. Mal sehen, was die nächsten Monate zeigen. Das Schuljahr möchte ich auf jeden Fall noch abwarten, bis wir eine Entscheidung treffen. LG Wiebke
CLH
Mein Gedanke ist ehrlich gesagt: verrückte Welt! Verrücktes bildungssystem!! Wie kann es sein dass eure Tochter in dem Zarten Alter so einem Druck ausgesetzt ist…:( weil sie (noch?) nicht (perfekt?) den allgemeinen leistungsstandards vollends entspricht? Ich bin so davon überzeugt, dass die Kinder dann das mit Freude und Ausdauer lernen, wenn sie eben soweit sind. Und wann das der Fall ist, kann eben enorm variieren. Ich finde es anrührend wie sehr sie sich anstrengt und natürlich fubktiinuert so eine positive Bestärkung gut wenn es darum geht Kinder dazu zu bewegen eine bestimmte Leistung abzuliefern. Aber die Motivation dahinter ist dann vermutlich sehr extrinsisch und ich frage mich einfach immer wieder, was die Kinder dann letztlich davon haben?
Das ist alles KEINE Kritik an Dir Bzw euxh, ich finde nur immer wieder dieses System so absurd…weißt du was ich meine?
Alles alles Liebe für euch und so viel Freude wie möglich für deine Tochter bei den Herausforderungen in der Schule
Kerstin Anders
CLH ich stimme dir zu unser Bildungssystem ist sowas von überholt. Wir haben so eine Angst das unsere Kinder irgendwo hinterherhinken dabei ist das Quatsch. Schaft endlich dieses bescheuerte Bewertungssystem ab, habt vertrauen in die Kinder. Und den Lehrern sollte auch mehr Freiheit gelassen werden. Und PISA kann mich mal. Mein Sohn hat einen IQ von 112 und geht lieber auf ne Förderschule weil er mehr Erfolgserlebnisse braucht. Es ist kein schönes System aber da ich auch nicht den Mumm habe was zu ändern bleibt es halt so.
Petra
Hallo, erstmal dachte ich, wie mutig von dir, hier von deiner Tochter erzählen. Da bekommst du sicher Ratschläge in alle Richtungen!
Ich finde es auch erstaunlich, wie viel Vertrauen dieses Bildungssystem genießt. Als Lehrerin habe ich von Anfang an nach neuen, anderen Wegen gesucht, aber erst seit ich Mutter bin habe ich das Vertrauen, dass Kinder lernen werden – immer das, was für sie Sinn macht. In ihrem Tempo. Mittlerweile bekomme ich das Schulleben auch von der anderen Seite mit und es kommt mir so verrückt vor, nachdem ich unsere Kinder ohne Kindergarten über Jahre beim Lernen beobachten konnte.
Unsere Kinder lernen am effektivsten, wenn wir ihnen Fragen beantworten. Wenn interessantes Material erreichbar ist, ohne dass es sich aufdrängt. Wenn sie einfach eintauchen können in ihr Spiel, ins Forschen und Entdecken.
Mein Eindruck ist, dass die übliche Schule bis heute die Freude am Lernen nimmt und das Denken abgewöhnt. Sie bildet Kinder zu „Fabrikarbeitern“ aus, die ihre Aufgaben brav abarbeiten, ob sie Sinn machen oder nicht. Heute machen größtenteils Roboter die Arbeit in Fabriken, wir brauchen vielmehr problemlösendes Denken und Kreativität. Die große Mehrheit fühlt sich mit dem üblichen Schulsystem dennoch am sichersten, als ob Kinder nur in so einer Schule gut lernen können…wie verrückt…
Lasst euch von Schule nicht euer Leben diktieren. Und falls es bei euch eine Schule gibt, wo man freier lernen darf, schaut sie euch an. Das wären meine Ratschläge 😉
Viele Grüße, Petra
Thomas Karbowski
Gut zu wissen, dass Lärmschutzkopfhörer manchen Schülern während der Klausur zur besseren Konzentration helfen. Mein Neffe möchte die bestmögliche Note in seiner Abiturprüfung in Mathe erzielen. Er wird es auch ausprobieren, Lärmschutzkopfhörer während der Klausur zu tragen.